Wieviel kostet Atomkraft wirklich?

Seit gut einem Jahr wird, auch unter Linken in sozialen Netzwerken, über eine Renaissance der Atomkraft diskutiert. Bei dem Thema kollidieren zwei unterschiedliche Milieus – das bekannte politische Milieu der Anti-Atom-Aktivisten, und eine Gruppe von – in Ermangelung einer besseren Bezeichnung – Techno-Kommunisten, die sich z.B. auch dafür aussprechen würden, den Transrapid zu bauen.

Die Debatte um Atomkraft lässt sich allerdings, vielleicht anders als andere Debatten in der Linken, auf eine Sachebene führen. Eigentlich wollte ich dazu einen längeren Artikel veröffentlichen, aber da aus aktuellen Anlass außenpolitische Themen in absehbare Zeit die öffentliche Debatte dominieren werden sind, will ich wenigstens diesen Blogeintrag zu einem Teilaspekt veröffentlichen.

In der Debatte wird nämlich gelegentlich behauptet, dass Atomkraft sei kostengünstiger als erneuerbare Energien. Die Aussagen dazu stellen sich allerdings als nicht hinreichend belastbar heraus. Einerseits sind solche Schwierigkeiten zu erwarten, sonst wäre das Thema nicht so kontrovers; andererseits ist der Aufwand, die entsprechenden Stellungnahmen zu sichten, und dass zu Grunde liegende Problem erkennbar zu machen, nicht so groß.

Dass Solar- und Windstrom günstiger sind als Kohle, darf zumindest als fest etabliert gelten. Hier ist ein Artikel des Guardian dazu, sowie eine ausführliche  Studie des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme. Auf Atomkraft wird dabei aber nicht eingegangen. Diese Aussage – dass Solar und Wind kostengünstiger sind als Kohle –  lässt sich ebenfalls aus den Studien der Internationalen Agentur für erneuerbare Energie (International Renewable Energy Agency – IRENA) und der Internationale Agentur für Energie (International Energy Agency – IEA) entnehmen. Letztere, welche in Zusammenarbeit mit der Agentur für Nuklearenergie (Nuklear Energy Agency) entstanden ist, kommt allerdings zu dem Schluss, dass der Weiterbetrieb bestehender Atomreaktoren die kosteneffektivste Lösung für C02-freie Stromproduktion sei (S. 147 des PDF). Darauf gehe ich weiter unten ein. Die Studie der Agentur für erneuerbare Energie thematisiert Atomkraft hingegen gar nicht.

Die am besten begründeten Zahlen zu den Kosten der Atomkraft finden sich in einem  Bericht der Investmentbank Lazard. Den Hinweis darauf hatte ich aus diesem Video einer Youtuberin. Lazard wird insbesondere auch in einer Grafik mit dem Vergleich der verschiedenen Kraftwerke in einem Artikel der DW als Quelle angeben.

Kommerzielle Solar- und Windparks liegen dort klar vorne, gefolgt von modernen Gaskraftwerken und Geothermie. Kohle- und Atomkraft sind weit abgeschlagen.  In der ausführlichen Fassung des Berichts von Lazard werden die vorgenommenen Annahmen transparent gemacht. Für den Bau eines neuen Atomkraftwerks wird von Kosten von 6100-10025 US$ pro Kilowatt an Kapazität ausgegangen. Zum Vergleich: Für moderne Gaskraftwerke („gas combined cycle“), die, wie Atom- oder Kohlkraftwerke grundlatzfähig sind, liegen die Baukosten bei 650-1150 US§ pro Kilowatt, bei Solarfarmen, mit der neusten Technologie, bei 800-950 US§ pro Kilowatt. Bei diesen hohen Baukosten ist Atomkraft nicht wettbewerbsfähig. (Man kann das Problem der fehlenden Grundlastfähigkeit von Solar und Wind ja auch durch Power-to-Gas und moderne Gaskraftwerke lösen – oder gleich durch Batterien.)

Wofür braucht man einen Reaktordruckbehälter?

Aber wieso sind die Kosten neuer Atomkraftwerke so hoch? Ist dies so, weil die Bauindustrie korrupt ist, wie ein linker Atombefürworter unter Hinweis auf diesen Artikel über den Bau von neuen Atomkraftwerken von Forbes in China meinte? Dann muss die britische Bauindustrie aber besonders korrupt sein. Der im Bau befindliche Reaktor Hikley Point C kostet insgesamt 21,5- 22,5 Milliarden £ (25,6 – 26,8 Milliarden €; Artikel des Guardian). Wahrscheinlich liegt der Grund dafür, dass China die Druckwasserreaktoren preisgünstiger gebaut werden können, zum einen darin, dass dort, wie der Forbes-Artikel selbst herausstellt, die teuren Reaktordruckbehälter relativ gut produziert werden können.

Large nuclear reactors require single-forged pressure vessels, using forging presses (special  furnaces for working metal) of about 16,000 tons that accept hot steel ingots of about 600 tons. These are not common in the world, and a single forge can only forge several vessels a  year. Before 2007, only one such forge was operational, leading to a huge bottleneck in global construction. […] New forges are expected soon in Korea, the Czech Republic, India  and the UK. Not surprising, China has more forges than anyone else and plans even more, quite necessary for them to achieve their long-term nuclear goals.

Das ist der sog. Skaleneffekt. Sobald man etwas in höherer Stückzahl produziert, wird es preisgünstiger. Zum anderen entsteht aber auch der Eindruck, dass man in China an der Reaktorsicherheit spart. In Taishan, in der Nähe von Hongkong, gab es 2021 einen Zwischenfall in einem neuen Reaktor (das gleiche Reaktordesign, wie das, das man in Hikley Point baut). Wie in den Zeitungen berichtet wurde (Artikel der Süddeutschen) hat man dort radioaktive Gase in die Luft entweichen lassen, und in dem Zusammenhang die Grenzwerte angehoben. Irgendwie widersprechen sich die Aussagen allerdings ein bisschen: „Ein Weiterbetrieb unterhalb der Grenzwerte ist möglich, dann müssen die Gase aber kontrolliert in die Atmosphäre abgegeben werden – das war nach Angaben von EDF in Taishan das Vorgehen, wie ein Sprecher der Nachrichtenagentur AFP sagte. […]  Allerdings ist unbekannt, wie hoch die chinesischen Grenzwerte sind. Laut anonymen Quellen, die das französische Blatt Les Échos zitiert, überschreiten die gemessenen Konzentrationen die französischen Grenzwerte für den Reaktorbetrieb „bei Weitem“. Laut CNN hat Framatome in dem Schreiben an das US-Energieministerium berichtet, die Grenzwerte für Radioaktivität in der Außenluft seien bereits angehoben worden und könnten noch weiter steigen, um den Weiterbetrieb des Reaktors zu erlauben.“

China ist nicht gerade für die Pressefreiheit bekannt. Wie viele Vorfälle an Reaktoren gibt es dort außerdem noch, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt? Ein solches Vorgehen wäre natürlich in Europa ein politischer Skandal. Derartige Vorfälle haben das Vertrauen in die Atomkraft in Deutschland soweit erschüttert, dass man hier gar keine Reaktoren mehr bauen darf, und in Ländern wie Frankreich, Großbritannien und Finnland müssen alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden, um Strahlungslecks oder schlimmeres zu verhindern. Auf das Argument, dass ‚das bisschen Strahlung‘ nicht so gefährlich sei, werde ich an dieser Stelle nicht eingehen. Diese Sicherheitsmaßnahmen sind natürlich teuer – und dieses Problem tritt bei allen wassergekühlten Reaktoren auf. 

Deswegen ist der Vorschlag, die bestehenden Druckwasserreaktoren länger in Betrieb zu lassen, auch hochproblematisch. Die Studie der Internationale Agentur für Energie, legt dies nahe, betont immerhin, dass sich die Kosten für den Langzeitbetrieb (long term operation, LTO) von Atomkraftwerken über eine Lebenszeit von 40 Jahren hinaus nicht abschätzen lassen.

Taking into account all these considerations and the evidence collected from several case studies, the EGLTO concluded that an average overnight LTO investment could range from USD 450 per kWe to USD 950 per kWe. This variability could be largely explained by the differences in the scope of LTO investments due to the reasons indicated previously. (S. 149)

Was an dieser Stelle in der Studie fehlt ist jede Diskussion darüber, ob sich ausschließen lässt, dass das Risiko eines Strahlenlecks oder schlimmeren Zwischenfalls bei Langzeitbetrieb ansteigt, und welche Kosten mit dem Anspruch verbunden wären, ein solches Risiko auszuschließen. Der Reaktordruckbehälter zählt nicht zu dem Bauteilen, die in der Studie erwähnt werden – den zu ersetzen wäre sicherlich so teuer, dass man gleich ein neues Atomkraftwerk bauen könnte. Welche Lebensdauer hat Stahl, wenn er heißen, unter Druck stehendem Wasser und Neutronenstrahlung ausgesetzt ist? Diese Frage sollte man jedem stellen, der meint, Druckwasserreaktoren seien kostengünstiger als Ökostrom.

Im Fall des Reaktors Neckarwestheim 2, der Ende 2022 stillgelegt werden soll, ist es nicht der Reaktordruckbehälter, der Sorgen macht, sondern es sind die Stahlrohre im Wärmetauscher. Die ZEIT hat eine umfassende Analyse dazu veröffentlicht. Das Problem ist, dass man den Reaktor komplett stilllegen muss, um die Rohre auszuwechseln. Selbst wenn der Beschluss zur Stilllegung aufgehoben werden sollte, müsste man den Reaktor für die Instandsetzung abschalten. Was sonst eine sicherlich noch akzeptable Strategie zur Kostenminimierung wäre – eine Anlage, die sowieso stillgelegt werden soll, auf Verschleiß zu fahren, um Instandsetzungskosten zu sparen – erhöht hier deutlich das Risiko eines Strahlungslecks.

Das ist die Besonderheit der Atomkraft als Energiequelle. Auch Kohlekraftwerke verursachen z.B. durch die Emission von Quecksilber Gesundheitsschäden. Ein Artikel des Deutschlandfunk zu dem Thema stellt heraus, dass man dabei in Deutschland an Gegenmaßnahmen spart, welche die Quecksilberbelastung reduzieren würden. Solche Sparmaßnahmen, welche bei einem kapitalistischen Energiekonzern wohl unvermeidlich sind, sind natürlich auch bei Atomkraftwerken denkbar, aber bei Druck- und Siedewasserreaktoren ist das Problem aber viel ausgeprägter. Während bei einem Kohle- oder Gaskraftwerk ein Leck in den Dampfrohren schlimmstenfalls zu einem Ausfall der Turbine führen würde, bedeutet ein Leck im primären Kreislauf eines wassergekühlten Reaktors das Ausweichen von radioaktivem Dampf. Bei größeren Lecks droht eine Kernschmelze, weil die Kühlung für die Brennstäbe ausfällt. Die Bauteile des Reaktors müssen also besonders hohen Anforderungen genügen, und sehr gut instand gehalten werden. Dass sie teilweise zusätzlicher Korrosion durch Neutronenstrahlung ausgesetzt sind, kommt noch dazu.

Ist Atomkraft sicher? Wenn ja, wieviel kostet die Sicherheit?

Die Frage der Kosten der Atomkraft lässt sich also nicht von der Frage trennen, wie sicher sie ist. Das ist das Problem bei der Frage, wie viel Atomkraft kostet! Wer die Kosten der Atomkraft niedrig ansetzen will, kann nicht mehr behaupten, dass Atomkraft sicher ist. 

Dazu noch ein Beispiel: In einer der Debatten in sozialen Netzwerken wurde die These in den Raum gestellt, dass Atomkraft sicher ist, und dies anhand von zwei Artikel belegt (Our World in Data, altenergymag). Intersanterweise kommt dann aber, bei der Betrachtung der Sicherheit, die Frage der Kosten zu kurz. Our World in Data schreibt z.B. das hier über die Folgen von Tschernobyl und Fukushima:

For Chernobyl, there are several death estimates. We rely on the estimate published by the World Health Organization (WHO) – the most-widely cited figure – although this is considered to be too high by several researchers, including a later report by the United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR).13 We discuss this contention below. The WHO estimates that 4000 people have or will die from the Chernobyl disaster. This includes the death of 31 people as a direct result of the disaster and those expected to die at a later date from cancers due to radiation exposure.

The disaster in Fukushima killed 574 people. In 2018, the Japanese government reported that one worker has since died from lung cancer as a result of exposure from the event. No one died directly from the Fukushima disaster. Instead, most people died as a result of evacuation procedures. According to Japanese authorities 573 people died due to the impact of the evacuation and stress.

Diese Todeszahlen wären sicherlich noch höher, wenn man die betroffenen Gebiete nicht evakuiert hätte, im Fall von Tschernobyl dauerhaft. Die Kosten dieser Evakuierungen sind dann zu den Kosten der Atomkraft hinzu zu zählen – und auch ohne dafür Zahlen zu recherchieren, denke ich, ist deutlich, dass die Kosten der Atomkraft dann extrem hoch sind. Das Argument, dass neue Druckwasserreaktoren sicherer sind als die Desaster-Reaktoren von Tschernobyl und Fukushima hilft dann nicht weiter – denn diese sind auch teurer.

Nun geht man in der Anti-AKW-Bewegung natürlich davon aus, dass Atomkraft niemals sicher sein kann.  Aber selbst, wenn man das Argument der Befürworter akzeptiert, dass moderne Atomkraftwerke sicher sind – diese Sicherheitsmaßnahmen sind teuer. Und dann wiederum scheitert die Atomkraft daran, dass sie teurer ist, als erneuerbare Energien. Und die Kosten für die Entsorgung des Atommülls kommen selbstverständlich noch dazu.

Dieser kurze Text ist natürlich keine Stellungnahme, die maximalen Ansprüchen genügt. Wie denn auch? Um systematisch alle Berichte zu Kosten und Sicherheitsproblemen von aktuellen Atomkraftwerken auszuwerten, bräuchte man ein kleines Team von Ingenieuren, von denen einige chinesisch können müssten, um das Argument, dass man in China Reaktoren preisgünstiger bauen kann, zu prüfen.  Jedenfalls finde ich keinen der Debattenbeiträge für den Bau von neuen Druckwasserreaktoren auch nur ansatzweise überzeugend. Offensichtliche Gegenbeispiele wie die Kosten von Hikley Point C werden ignoriert, oder, wenn behauptet wird, dass sich diese Kosten reduzieren lassen, wird nicht auf die Sicherheitsprobleme eingegangen. Da es politisch gerade deutlich dringendere Themen gibt, könnte die Debatte darüber aber vielleicht von alleine einschlafen.

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