In der Ausgabe vom 4./5. September des Neuen Deutschland erschien ein Artikel von mir:
, über die Staatstheorie des Neoliberalismus. Das es tatsächlich eine Theorie des Neoliberalismus gibt, und dass sich diese ideengeschichtlich genau eingrenzen lässt, beansprucht der Artikel zu zeigen. Man muss das allerdings nicht unbedingt Neoliberalismus nennen – die Bezeichnung Neo-Proprietarismus, die Thomas Piketty in seinem neuen Buch »Kapital und Ideologie« vorschlägt, passt sogar besser.
Der Sache nach ist in einem Artikel, der in einer Tageszeitung veröffentlich wird, natürlich kaum Platz für Literaturnachweise, und ich habe auch noch einige zusätzliche Anmerkungen. Auf diesem Blog ist dafür jedoch genug Platz:
Textnachweise zur Primärliteratur
Adam Smith (1978): Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übersetzt von H.C. Recktenwald. München: Dt. Taschenbuch-Verl.
Smiths Beschreibung der Staatsaufgaben in dem von ihm vorgeschlagenen ‚System der natürlichen Freiheit‘ bietet er auf S. 582.Eine Aussage Smiths, dass sich die meisten öffentlichen Arbeiten („public works“) aus Nutzungsgebühren bezahlen lassen, und dafür keine allgemeinen Steuergelder erforderlich sind, findet sich auf S. 613.
Friedrich A. von Hayek (2004): Der Weg zur Knechtschaft. Hg. von Manfred E. Streit und übersetzt von Eva Röpke. 4. Auflage, durchgesehen und ergänzt. Tübingen: Mohr Siebeck
Die zitierte Passage über öffentliche Güter findet sich auf S. 36. Eines von Hayeks Beispielen bezieht für öffentliche Güter bezieht sich auch auf das Problem der Umweltverschmutzung und externen Effeklte: „[…] gewisse Schäden, die durch […] den Rauch oder den Lärm der Fabriken versursacht werden, können nicht auf den betreffenden Eigentümer beschränkt werden oder auf solche, die bereit sind, sich gegen eine ausbedungene Entschädigung den Schaden gefallen zu lassen.“ Hayek ergänzt: „Unter solchen Umständen müssen wir irgendeinen Ersatz für die Regulierung des Preismechanismus finden.“ Das Zitat von Adam Smith findet sich im Anschluss auf S. 37. Die Aussage über die Garantie eines Existenzminimums tätigt Hayek auf S. 108.
Robert Nozick (1981): Anarchie, Staat, Utopia. München: Moderne Verlagsgesellschaft.
Nozick verwendet den ersten Teil von »Anarchie, Staat und Utopie« um den Minimalstaat zu legitimieren und dessen Entstehung zu erklären. Teil 2 und Teil 3 des Buches vertreten dann in verschiedener Form die These: „Der Minimalstaat ist der weitestgehende Staat, der sich rechtfertigen lässt.“ (S. 143); „Kein über den Minimalstaat hinausgehender Staat lässt sich rechtfertigen.“ (S. 217). Teil 2 geht dabei auf verschiedene Gegenargumente ein, unter anderen die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (S.170ff) und die marxsche Ausbeutungstheorie (S.232ff), bietet aber offenbar keine angemessene Behandlung des Problems öffentlicher Güter. Teil 3 bietet eine Theorie für das Framework (System) utopischer Gesellschaftsentwürfe, die von der neoklassischen Gleichgewichtstheorie inspiriert ist; aber dieses Framework besteht, so Nozicks Schlussfolgerung, gerade im Minimalstaat (S.302f).
James M. Buchanan (1984): Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen: Mohr
Die Definition von protektiven Schutzstaat (‚protective state‘) und produktiven Leistungsstaat (‚productive state‘) bringt Buchanan auf S. 68ff. Die zitierte Passage über das Ideal der Einstimmigkeit findet sich auf S.138. Dass mit dem Leistungsstaat der Wohlfahrtsstaat der 1930-70er in den USA gemeint ist lässt sich unter anderem an Buchanans Kritik an den sozialpolitischen Programmen der US-Bundesregierung seit F.D.Roosevelts New Deal auf S. 240 erkennen. In Bezug auf die „Abfolge von New Deal, Fair Deal, New Frontier, Great Society und New Federalism“ kritisiert Buchanan, dass „der Frage, welche Größe und welchen Umfang die politische Tätigkeit insgesamt annehmen soll“, fast keine Beachtung geschenkt wurde. Auf Adam Smith beruft sich Buchanan im Anschluss auf S.241f und auf S. 130.
Textnachweise und Anmerkungen zur Sekundärliteratur
Definition des Neoliberalismus bei David Harvey
David Harvey (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus. 1. Aufl. Zürich: Rotpunktverl.
Die deutsche Ausgabe ist vergriffen; englische Ausgabe: David Harvey (2005): A brief history of neoliberalism. Oxford: Oxford Univ. Press.
David Harvey ist Professor für Geographie an der City University of New York und gilt als Marxist, aber die zitierte Definition des Neoliberalismus enthält keine Elemente, die nur für marxistische Theorien exklusiv sind; sie findet sich auf S. 8 der deutschen Ausgabe.
Zum philosophiegeschichtlichen Anspruch in Stremingers »Adam Smith. Wohlstand und Moral«
Gerhard Streminger (2017): Adam Smith. Wohlstand und Moral. Eine Biographie. München: C.H. Beck.
Die zitierte klare Abgrenzung von Adam Smith gegen den Neoliberalismus bietet Streminger in einer eigens dafür eingefügten editorischen Anmerkung auf S. 226.
Die klare Positionierung von Streminger in zumindest in einem Fall einen Anlass für ein Missverständnis gegeben. Michael Stallknecht wirft ihm in der Rezension seines Buches für die Neue Züricher Zeitung vor, in »Adam Smith. Wohlstand und Moral«, „den eigenen Furor wider den Neoliberalismus mit den Smithschen Darlegungen zu verschmelzen. Diesen Furor mag man sympathisch finden oder nicht; er entbindet aber den Philosophen, so er selbst als Wirtschaftstheoretiker tätig werden will, nicht davon, genauer zu analysieren, wie es sich denn nun verhält mit diesem Neoliberalismus in der Gegenwart.“ (NZZ vom 13.07.2017, S. 40)
Der Rezensent verwechselt hier offenbar zwei Sachen: Stremingers „Furor wider den Neoliberalismus“, der nun gar nicht so furios ist, resultiert nicht aus seiner eigenen politischen Position, sondern mehr aus der Empörung des Fachwissenschaftlers über den fehlenden wissenschaftlichen Anspruch bestimmter Publikationen zu Adam Smith. Es ist in erster Linie Aufgabe der Philosophie und anderer Geisteswissenschaften, die behandelten Texte sachlich korrekt wiederzugeben; natürlich kann man eine eigene Meinung zu dem jeweiligen Thema haben, und diese im gleichen Zusammenhang vertreten, aber diese sollte weder positiv noch negativ auf den jeweils untersuchten Text projiziert werden.
Außerdem geht es bei diesem Thema um politische Philosophie, nicht um Wirtschaftstheorie. Wirtschaftstheorietische Argumente sind natürlich dann unvermeidlich, wenn es darum geht, die ökonomischen Konsequenzen bestimmten staatlicher Eingriffe abzuwägen, aber zunächst einmal fällt die Frage, welche Aufgaben der Staat vernünftigerweise haben sollte, in den Bereich der politischen Philosophie. Die Analyse, „wie es sich denn nun verhält mit diesem Neoliberalismus in der Gegenwart“, lässt sich verständlicherweise nicht auf der Grundlage eines Theoretikers wie Adam Smith, aus dem 18. Jahrhundert führen. Deswegen verwendet der Artikel drei Texte aus der modernen politischen Philosophie.
Auf jeden Fall hat die Veröffentlichung von Gehrhard Stremingers »Adam Smith. Wohlstand und Moral« hatte die Frage der politischen Einordnung von Adam Smith in die Öffentlichkeit gebracht. Man vergleiche die Rezension von Katja Scherer für den Deutschlandfunk: Falsch verstandener Vordenker.
Mein Artikel Adam Smith: Sozialliberaler Urgroßvater vom Februar 2021 im Neuen Deutschland belegt die These, dass Smith nicht als neoliberaler Vordenker einzuordnen ist, anhand von Smith Kritik des Luxus und seiner Forderung nach progressiver Besteuerung. Die zweite These meines Artikels ist natürlich die, dass Adam Smith über die Kritik des Luxus letztlich doch die Ungleichheiten des Kapitalismus legitimiert, so lange für die Arbeiter zumindest das sozio-kulturelle Existenzminimum garantiert ist. Damit lassen sich, denke ich, die Interpretationsschwierigkeiten auflösen, die sich ergeben, wenn man versucht, Smiths ambivalente Aussagen zur Arbeiterfrage in Buch I, Kapitel 8 des »Wohlstand der Nationen« zu verstehen. Die erstere These alleine, dass Adam Smith nicht als Vordenker des Neoliberalismus einzuordnen ist, lässt sich einfacher belegen, wenn man den Fokus auf die Frage der Staatsaufgaben legt, wie es Streminger tut.
Piketty über die ‚neoliberale Wende‘
Thomas Piketty (2020): Kapital und Ideologie. München: C.H. Beck.
Zu Pikettys Begriff ‚Proprietarismus‘ vgl. insbesondere die Anmerkung der ÜbersetzerInnen auf S.13. Pikettys Anmerkung, dass der Begriff ‚Liberalismus‘ „zwischen wirtschaftlichem und politischem Liberalismus oszilliert“, findet sich auf S. 591. Ein wichtiges Beispiel für die Ambiguitäten des Begriffs ‚Liberalismus‘ betrifft Hayek; Piketty (S.886) verweist darauf, dass Hayek in »Recht, Gesetzgebung und Freiheit« einen Verfassungsentwurf vorlegt hat, bei dem das allgemeine Wahlrecht eingeschränkt ist, und die Eigentumsordnung eine Ewigkeitsgarantie hat. Deswegen ist das Beispiel der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile für die Diskussion um den Neoliberalismus so wichtig. Piketty verweist, zumindest in der deutschen Ausgabe, auf den Artikel über Hayek, Demokratie als Problem, von Thomas Biebricher. „In zahlreichen Interviews, die Hayek damals gab, erklärte er, dass er ein autoritäres Regime wie das von Pinochet, das die Regeln des Wirtschaftsliberalismus und das Eigentumsrecht respektiere, einem sogenannten sozialdemokratischen System vorziehe, das diese Regeln missachte. Siehe zum Beispiel das Interview mit El Mercurio im April 1981: ‚Ich persönlich würde einen liberalen Diktator gegenüber einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, vorziehen.‘“ (a.a.O., S. 887) Der Begriff ‚Liberaler Diktator‘ ist aus der Sicht eines politischen Liberalismus natürlich ein Selbstwiderspruch. Dann kann man Hayeks Position weder als ‚Neoliberalismus‘ bezeichnen, noch als irgendwie andere Form von Liberalismus.
Die Parallelen, die Piketty bei dem modernen Neoprorietarismus und dem Proprietarismus des 19 Jh. sieht, begründen teilweise den monumentalen Umfang von Pikettys Buch; „der Neoproprietarismus des 21. Jahrhunderts [lässt sich] nicht eingehend untersuchen, ohne zunächst die verschiedenen Formen des Proprietarismus des 19. Jahrhunderts zu analysieren“ (S.525). Kapital und Ideologie biete eine Theorie von 4 Phasen der Entwicklung der neuzeitlichen Gesellschaft: Die Feudalgesellschaft vor der französischen Revolution, die Eigentümergesellschaft bis ca. 1945, und die sozialdemokratische Gesellschaft von ca. 1945 bis zur neoliberalen Wende. Die Gesellschaft seit ca. 1980 bezeichnet Piketty als ‚Hyperkapitalismus‘.‘ (Vgl. dazu auch diese Zusammenfassung von Piketty durch das sozialdemokratische Magazin Kontrast.at.)
Durch den Begriff ‚sozialdemokratische Gesellschaft‘ soll allerdings nicht impliziert werden, dass es nur die sozialdemokratischen Parteien waren, die den Wohlfahrtsstaat unterstützen, im Gegenteil. Über das Parteiensystem in der BRD nach 1945 schreibt Piketty: „Ungeachtet dessen bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Parteien [CDU und SPD], zum Beispiel in der Frage, wie das Sozialsystem organisiert und wie großzügig es sein sollte, aber gemeinsam war ihnen, dass sie sich zu einem neuen Rahmen bekannten, zu dem insbesondere höhere Pflichtabgaben und Sozialausgaben gehörten, als es sie im Steuer- und Sozialsystem vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte; dahin wollte keine politische Bewegung zurückkehren (weder in Deutschland noch in den anderen europäischen Ländern).“ (S. 613f) Der Wohlfahrtsstaat der 1950er bis 1980er wurde von einem breiten Konsens getragen, zu dem neben der Sozialdemokratie insbesondere auch sozialliberale und sozialchristliche Positionen gehörten. Entscheidend für die politische Situation der Gegenwart ist, dass dieser Konsens in vielen westlichen Länder durch alle Parteien aufgekündigt wurde, in Deutschland ausgerechnet durch die SPD unter Gerhard Schröder.
Nachweis zu Kerstings »politischer Philosophie des Gesellschaftsvertrags« und die Forderung von Einstimmigkeit in Buchanans »Grenzen der Freiheit«
Wolfgang Kersting (1994): Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
Die zitierten Passagen von Kersting mit der Ideologiekritik an Buchanan und Nozick sind von S. 340 und S. 348 entnommen.
Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass es zur der Frage, ob Einstimmigkeit bei dem Beschluss über produktive Leistungen des Staates erforderlich ist, unterschiedliche Interpretationen von Buchanans »Grenzen der Freiheit« gibt. Die Veröffentlichung von MacLeans »Democracy in Chains«, sorgte, wie bei dem Inhalt des Buches zu erwarten war, für größeres Aufsehen und führte unter anderem zu einer Debatte zwischen zwei Politikwissenschaftlern in der Washington Post. Als Reaktion auf einen Meinungsbeitrag von Georg Vanderberg veröffentliche die Washington Post einen Artikel von Michael Chwe: The beliefs of economist James Buchanan conflict with basic democratic norms. Here’s why., darauf reagierte Georg Vanberg mit einem zweiten Artikel: Was Nobel Laureate James Buchanan really opposed to democracy? Not at all. Während Michael Che unter anderen die kritischen Ergebnisse von MacLean zusammenfassend wiedergibt und betont, dass Buchanans Ideal der Einstimmigkeit bedeutende würde, dass „ein Milliardär das Zahlen von Steuern verweigern könnte, welche Tausenden seiner hungernden Nachbarn helfen würde“, er also zu der gleichen Interpretation gelang wie Wolfang Kersting, vertritt Georg Vanberg die These, dass Chwe und andere „die Rolle von Einstimmigkeit im Denken Buchanans“ missverstehen würden.
Zumindest illustriert dies die Bedeutung des Themas: Wann ist die Frage der Interpretation einer kontraktualistischen Abhandlung schon mal Gegenstand einer Debatte in einer Tageszeitung? Diese Interpretationsschwierigkeiten lassen sich an dieser Stelle natürlich nicht auflösen, es sei aber noch auf einen anderen Punkt hingewiesen: Wenn James M. Buchanan durch Georg Vanberg als Nobelpreisträger („Nobel Laurate“) bezeichnet wird, dann ist dies irreführend. Buchanan hat 1986 den Preis im Gedenken an Alfred Nobel erhalten, den die Schwedische Zentralbank vergibt. Alfred Nobel hatte selbst, sicherlich aus gutem Grund, keinen Preis für Wirtschaftswissenschaften vorgesehen. In Anbetracht der Tatsache, dass Preis im Gedenken an Alfred Nobel eine Tendenz hat, an Vertreter neoliberaler oder marktliberaler Theorien zu gehen (Milton Friedman und F.A. Hayek haben auch einen bekommen), liegt der Verdacht nahe, dass hier eine bestimmte politische Position durch Inanspruchnahme der Reputation des Nobelpreises gestärkt werden soll.
Nachweise zu MacLean, Democracy in Chains
Nancy MacLean (2017): Democracy in chains. The deep history of the radical right’s stealth plan for America. New York: Viking.
Den Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Charles Koch und Buchanan und die Bedrohung der Demokratie durch den Lobbyismus von Milliardären bietet MacLean im Vorwort: S. XIX und S. XV; Die Kritik der libertäreren Philosophie auf S. 213.
Weitere Anmerkungen
Zur Kritik des postmodernen Konzepts ‚Neoliberalismus‘
Mein in dem Artikel vorgenommener Zugriff auf das Thema ‚Neoliberalismus‘ unterscheidet sich insbesondere von einem anderen Zugriff, der in der Linken verbreitet ist und auf Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France 1978 und 1979 zurückgeht. Auf Deutsch wurde diese 2006 bei Suhrkamp veröffentlich als: »Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II«.
Leider ist Foucaults Konzept von ‚Neoliberalismus‘, wie oft bei postmodernden Texte, einem Verständnis nicht einfach zugänglich; die Interpreten sind sich nicht einig, worauf Foucault politisch abzielte. Über die späteren Lebensjahre von Foucault ist aktuell eine Biographie erschienen: Mitchell Dean & Daniel Zamora (2021): The Last Man Takes LSD. Foucault and the end of revolution. Brooklyn: Verso Books.
Der Titel des Buches bezieht sich auf Foucaults Erfahrungen mit LSD in Kalifornien 1975. Der Verlag bietet auch eine Leseprobe, aus dem Kapitel über Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus. Dort wird angemerkt, dass die Mehrheit der Kommentatoren zu Foucaults Vorlesungen von 1978/89 auf diese ihre eigenen Interpretationen des Neoliberalismus projizieren würden.
Zu den Kosten öffentliche Infrastruktur
Da Adam Smith Straßen und Brücken als Beispiele für öffentlichen Infrastruktur nennt, ist es sicherlich sinnvoll, kurz darauf anzugehen, wie die Instandhaltung dieser Infrastruktur in Deutschland vernachlässigt wird. Dies ist Thema in einer Kurzdoku von ZDF Info. Allein auf der Ebene der Städte und Kommunen liegt der Investitionsstau in Deutschland rund 150 Milliarden Euro. Allerdings verliert sich die Doku darin, die Kostenüberschreitungen bei bestimmten Großprojekten darzustellen, und verzichtet darauf, die entscheidende Frage zu stellen: Wieso gelingt es der Politik nicht, dieses Finanzierungsdefizit in Angriff zu nehmen? In einer parlamentarischen Demokratie entscheiden, dem Anspruch nach, die gewählten RepräsentantInnen der Bürgerinnen und Bürger darüber, welche öffentlichen Güter der Staat bereitstellen soll, und wie deren Kosten verteilt werden. Die parlamentarischen Institutionen sollten in der Lage sein, eine solche Entscheidung herbei zu führen. Wieso dies nicht geschieht, wird vor dem Hintergrund der neoliberale Wende verständlich. Die Infrastruktur wird deswegen auf Verschleiß gefahren, weil die Politik seit den 1980ern die Steuerprogression reduziert hat, und der Staat daher gar nicht mehr über das Geld verfügt, sie angemessen Instand zu halten.
Hinweis zum Begriff ‚Nachtwächterstaat‘
Die Begriffe Minimalstaat und Nachtwächterstaat sind, denke ich, deckungsgleich, der Begriff des Nachtwächterstaates ist jedoch deutlich älter. Ferdinand Lasalle, einer der Begründer der Sozialdemokratie in Deutschland, spricht in dem Arbeiterprogramm von 1862 wörtlich von der „Nachwächteridee des Staates“. [ Gesammelte Werke und Schriften, Band 2, 1919, S. 195]
Öffentliche Güter und die Ableitung anderer Positionen des Neoliberalismus
Wie sich z.B. die Position in der Klimapolitik aus der Position zu öffentlichen Gütern ableiten lässt, zeigt Prof. Martin Kolmar in einem Artikel für Die Zeit auf: Die unsichtbare Hand kann es nicht allein. Der Fachbegriff für Probleme wie den menschengemachten Klimawandel in der Wirtschaftstheorie ist ‚externe Effekte‘: „Deregulierte Märkte sind nur insoweit effizient, als dass keine Externen Effekte in systematischem Ausmaß existieren.“ Die Kosten durch den Klimawandel werden bei dem Preis, der sich auf dem Markt für Produkte ergibt, die CO2 oder Methan freisetzen, nicht berücksichtigt. Dadurch wird ein natürliches Gemeingut – die Kapazität des Planeten zur Aufnahme von Treibhausgasen – verbraucht, ohne dass dieser Verbrauch angemessen bezahlt wird. Es handelt sich in beiden Fällen, bei Gemeingütern und bei öffentlichen Gütern, um Varianten des Problems kollektiven Handelns: „Umweltaspekte sind nicht die einzige Ursache für Externe Effekte. Dass der Staat historisch Kollektivhandeln organisiert und in bestimmte Infrastrukturen und Bildung investiert hat, lag nicht nur an Gerechtigkeitsüberlegungen, sondern auch daran, dass diese sogenannten Öffentlichen Güter auf Märkten nicht effizient bereitgestellt werden.“
Martin Kolmar, der sich auf den ordoliberalen Ökonomen Walter Eucken beruft, distanziert sich im Übrigen ausdrücklich von der „neoliberale Politikwende, die in den Achtzigerjahren mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher begann und bis in die Gegenwart reicht“, und grenzt seine ordnungspolitische Position deutlich von der Position der Vertreter des Minimalstaats ab: „Gute Ordnungspolitik ist […] deutlich komplexer als die Sicherung eines Minimalstaats.“ Dann sollte man den Titel seines Artikels aber noch mit einem Hinweis versehen: Adam Smith hat nie behauptet, dass die unsichtbare Hand es alleine könnte – auch Smith verfügt im »Wohlstand der Nationen« über ein Konzept von öffentlichen Gütern.
Theorien des Neoliberalismus aus den 1930ern
Ein Artikel von George Monbiot, Journalist des britischen Guardian: Neoliberalism – the ideology at the root of all our problems, führt den Neoliberalismus auf ein Treffen des Ordoliberalen Ludwig von Mises mit Friedrich A. von Hayek in Paris 1938 zurück. Dort wurde dieser Begriff auch als Selbstbezeichnung verwendet. Ich teile allerdings die Analyse von Monbiot in diesen Punkt nicht, da ich Hayeks »Weg zur Knechtschaft« anders einordne. Wenn man mit dem Begriff ‚Neoliberalismus‘ auch Hayeks Position von 1944 erfassen will, dann müsste man diesen Begriff breiter fassen, und der Neoliberalismus wäre nicht mehr mit der Ideologie des Minimalstaats identisch.
Anmerkung zur Mont-Pèlerin-Society
Natürlich waren auch Hayek und andere Intellektuelle des Neoliberalismus politisch vernetzt. MacLean (S.58) erwähnt, dass Buchanan, auf Vorschlag von Hayek, auch Mitglied der Mont-Pèlerin-Society gewesen ist. Diese Gesellschaft funktioniert nicht direkt als politischer Lobbyverein, sondern als Debattierclub und Netzwerk.
Lobbypedia hat einen ausführlichen Eintrag zur Mont-Pelerin-Society. Zu ihrer Struktur heißt es dort (Stand Juni 2021): „Die MPS ist eine lose assoziierte Vereinigung von einflussreichen Personen ähnlicher ideologischer Ausrichtung, in der sämtliche Ämter ehrenamtlich ausgeführt werden. Sie verfügt über keine eigenen Büros oder Angestellte.“, sowie: „Insbesondere auf den Treffen, die mindestens einmal jährlich stattfinden, werden Meinungen ausgetauscht, Konzepte erörtert, „Seilschaften“ gepflegt und neoliberale Denkfabriken vernetzt.“ Indirekt dient die Mont-Pèlerin-Society damit durchaus der politischen Lobbyarbeit. Insbesondere nennt Lobbypedia auch Charles Koch als Mitglied!