Bereits Anfang Februar erschien im Neuen Deutschland ein Artikel von mir über Adam Smith: Sozialliberaler Urgroßvater Da ich im Voraus nicht wusste, wie lang so ein Artikel maximal sein kann, waren einige Kürzungen unvermeidlich. In einem privaten Blog gibt es hingegen praktisch keine Begrenzung der Textlänge. Hier sind also, als Ergänzung, einige Anmerkungen zu meinem Artikel, auf der Grundlage meines vorherigen Entwurfs.
Interessengegensatz von Arbeiter und Kapitalist bei Adam Smith
So fiel z.B. ein Teil des Zitats über den Arbeitsvertrag aus Buch I, Kap. 8 des »Wohlstand der Nationen« über den Arbeitsvertrag den aus Platzgründen notwendigen Kürzungen zum Opfer: „Was üblicherweise der Arbeitslohn ist, hängt von dem Vertrag ab, den beide Parteien miteinander vereinbaren, wobei die Interessen der beiden keinesfalls die gleichen sind. Der Arbeiter möchte soviel wie möglich bekommen, der Meister so wenig wie möglich geben.“ angebracht (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Hg. und übersetzt von Horst C. Recktenwald, München, DTV, 1978, S. 58)
Hier ist ein kritischer Kommentar zur verwendeten Übersetzung angebracht Recktenwald übersetzt das Wort ‚Masters‘ im Englischen nicht wortgetreu, sondern als ‚Unternehmer‘, was man als irreführend ansehen kann. Gerade weil das Wort ‚Meister‘ für einen modernen Leser noch Assoziationen mit stark hierarchischen Betrieben wecken kann, das Wort ‚Unternehmer‘ aber weniger, lässt er hier Smith moderner erscheinen, als er ist. Die Bezeichnung ‚Unternehmer‘ gab es wahrscheinlich im 18. Jahrhundert genauso wenig wie die Bezeichnung ‚Kapitalist‘; aber was Adam Smith hier beschreibt ist der Kapitalismus mit dem Gegensatz der Interessen von Arbeiter und Kapitalist.
Smiths Kritik am Zunftwesen
Adam Smiths Betonung des Rechtes auf den Ertrag der eigenen Arbeit verdient eine etwas ausführlichere Betrachtung: „Das Eigentum, das jeder Mensch an seiner Arbeit besitzt, ist in höchstem Maße heilig und unverletzlich., weil es im Ursprung alles andere Eigentum begründet. Das Erbe eines armen Mannes liegt in der Kraft und dem Geschick seiner Hände, und ihn daran zu hindern, beides so einzusetzen, wie er es für richtig hält, ohne dabei seine Nachbarn zu schädigen, ist eine offene Verletzung dieses heiligsten Eigentums, offenkundig ein Übergriff in die wohlbegründete Freiheit des Arbeiters […]“ (a.a.O., S. 106) Wieso ist dies für Smith so wichtig, dass er einen Superlativ benutzt, und die Arbeitskraft als „the most sacred property“ des Menschen beschreibt?
Angewendet auf den Interessengegensatz zwischen Arbeiter und Kapitalist („Meister“) würde sich daraus doch ergeben, dass allein die Interessen des Arbeiters maßgeblich sind. Marx versteht seine Theorie der Ausbeutung im Kapitalismus nicht als eine Gerechtigkeitstheorie (s.u.), aber man kann mit geringem Aufwand eine Gerechtigkeitstheorie davon machen. Wenn der Ertrag der eigenen Arbeit dem Arbeiter gehört, dann ist es ungerecht, dass sich der Kapitalist einen wesentlichen Teil davon (den Mehrwert) aneignet.
Tatsächlich hat Adam Smith hier nicht die Ungleichheit von Arbeiter und Kapitalist vor Augen, sondern die Ungleichheit von Lehrling und Meisterin einem Ausbildungsbetrieb. Im nächsten Absatz kritisiert er die langen Ausbildungszeiten in den Handwerksbetrieben seiner Zeit, die dafür sorgen würden, dass die Lehrlinge kein Interesse hätten, sich anzustrengen. Diese Regeln behindern den freien Wettbewerb; bei kürzeren Ausbildungszeiten würde die Konkurrenz der Handwerksbetriebe untereinander zu einen niedrigen Einkommen, sowohl der Arbeiter als auch der Meister, führen, aber auch zu niedrigen Preisen, welche im Interesse der Öffentlichkeit sind. Adam Smith kritisiert hier die Regeln der Zünfte, welche die Entwicklung des Kapitalismus behinderten. In dem Konflikt mit den aus dem Mittelalter tradierten Regelungen des Zunftwesens und der Armenfürsorge ist Smith klar auf der Seite der Durchsetzung des Kapitalismus.
Die Analyse des Arbeitsvertrages bei Smith
Es ist an dieser Stelle angebracht, die Marxsche Ausbeutungstheorie zu rekapitulieren. Die rechtliche Ungleichheit von Leibeigenschaft und Sklaverei wird in der bürgerlichen Gesellschaft zwar aufgehoben, aber nicht die Struktur der Ausbeutungsverhältnisse, die jetzt die Form des Arbeitsvertrages annimmt. Dies ist die aus dem »Manifest des Kommunistischen Partei« bekannte Periodisierung Marx‘ der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Sklavenhaltergesellschaften, auf Leibeigenschaft basierende Feudalgesellschaften und den Kapitalismus (vgl. MEW 4, S. 462f). Im »Kapital« beschreibt Marx dies so: „Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein. Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Ware überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, mußte er ferner der Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und hemmenden Arbeitsvorschriften entronnen sein.“ (MEW 23, S. 743)
Wie durch den Arbeitsvertrag im Kapitalismus ein Ausbeutungsverhältnis zu Stande kommt, geht aus Kapitel 4, Anschnitt 3, »Kauf und Verkauf der Arbeitskraft«, in Band I des »Kapital« hervor. Der Arbeiter ist rechtlich dem Kapitalisten, mit dem er einen Arbeitsvertrag eingeht, gleichgestellt; Arbeiter und Kapitalist sind „juristisch gleiche Personen“ (MEW 23, S. 182). Aber das Machtverhältnis von Arbeiter und Kapitalist ist nicht gleich. Marx beschreibt dies mit dem bekannten Stichwort der ‚doppelten Freiheit des Arbeiters‘. Der Arbeiter ist „frei in dem Doppelsinn“, dass er zum einem seine Arbeitskraft frei verkaufen kann, zum anderen aber „frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“ (MEW 23, S. 183). In Kapitel 24 ergänzt Marx die historische Darstellung, die in Kapitel 4 „einstweilen“ (ebd.) nicht interessiert. Dort erläutert er dies folgendermaßen: „Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind. […] Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus.“ (MEW 23, S.742)
Adam Smith ist sich im Übrigen des von Marx beschriebenen Problems, dass der Arbeiter nicht über eigene Produktionsmittel verfügt, durchaus bewusst: „Mitunter kommt es tatsächlich vor, dass ein unabhängiger Handwerker selbst genügend Kapital besitzt, um das Arbeitsmaterial zu kaufen und seinen Lebensunterhalt so lange zu bestreiten, bis das Werkstück fertig ist. […] Solche Fälle sind indes nicht sehr häufig. In ganz Europa kommt auf zwanzig abhängige Arbeiter nur einer, der selbstständig ist.“ (Wohlstand der Nationen, S. 57) Adam Smith beschreibt, wie Marx, das Problem, dass die Aushandlungsbedingungen des Arbeitsvertrages für Arbeiter und Kapitalisten nicht gleich sind. Die kapitalistischen ‚Meister‘ sind klar im Vorteil. Zahlmäßig sind die Kapitalisten deutlich weniger als die Arbeiter, und ihre Vereinigungen waren, anders als die Vorläufer der Gewerkschaften, zu jener Zeit nicht verboten. „In allen Lohnkonflikten können zudem die Meister viel länger durchhalten. Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Handwerksmeister, ein Fabrikant oder ein Kaufmann, ein jeder von ihnen könnte, selbst wenn er keinen einzigen Arbeiter beschäftigt, ohne weiteres ein oder zwei Jahre vom bereits ersparten Vermögen leben. Dagegen können viele Arbeiter ohne Beschäftigung nicht einmal eine Woche, wenige einen Monat und kaum einer ein ganzes Jahr überstehen. Für längere Zeit mag zwar der Unternehmer genauso auf den Arbeiter angewiesen sein wie umgekehrt dieser auf ihn, für kurze Zeit ist er es aber nicht.“ (Wohlstand der Nationen, S. 58)
Für Adam Smith ist diese Ungleichheit von Arbeiter und ‚Meister‘ im frühen Kapitalismus (der damaligen ‚kommerziellen Gesellschaft‘) aber nur eingeschränkt politisch kritikwürdig. Diese ambivalente Aussagen zur Arbeiterfrage werden in der übernächsten Anmerkung näher untersucht.
Politische Verpflichtung und Gerechtigkeitstheorie
Eine wesentliche Schwierigkeit, wenn man Autoren wie Adam Smith und Karl Marx vergleichen will, ist natürlich der unterschiedliche Zugang zu den Problemstellungen der politischen Philosophie und Gesellschaftstheorie. Ich verstehe, wie ich weiter unten erläutern werde, Smith als den Vertreter ein Gerechtigkeitstheorie – d.h., er bietet ein normatives Konzept von Gerechtigkeit und wendet dies auf bestehende Gesellschaft an.
Marx hingegen bietet kein normatives Konzept von Gerechtigkeit. Die Marxsche Ausbeutungstheorie ist keine moralische Kritik des Kapitalismus, sondern soll zu dessen Beschreibung dienen! Dies wird z.B. in einer Passage über die Arbeitsbedingungen in Bergwerken deutlich: „Vor dem Verbot der Arbeit von Weibern und Kindern (unter 10 Jahren) in Minen fand das Kapital die Methode, nackte Weiber und Mädchen, oft mit Männern zusammengebunden in Kohlen- und andren Minen zu vernutzen, so übereinstimmend mit seinem Moralkodex und namentlich auch seinem Hauptbuch, daß es erst nach dem Verbot zur Maschinerie griff.“ (MEW23, S.415) Dem so beschriebenen Kapitalismus ist offenbar nicht mit einem Appell an Anstand und Moral beizukommen; Ross Wolfe hat das Problem mit der Interpretation von Marx als einem Gerechtigkeitstheoretiker 2020 in einem Artikel Marxism contra Justice ausführlich dargestellt.
Um hier die Vergleichbarkeit von verschiedenen Theoretikern herzustellen verwende ich den Begriff ‚Legitimität‘ als Fachbegriff der politischen Philosophie. Eine Regierung (oder ein Gesetz) ist dann legitim, wenn die politische Philosophie zu dem Schluss kommt, dann man verpflichtet ist, dieser Regierung (bzw. dem jeweiligen Gesetz) zu gehorchen. Wenn ein Theoretiker über ein normatives Konzept von Gerechtigkeit verfügt, dann lässt sich das Problem der politischen Verpflichtung im Rückgriff darauf lösen; ein Gesetz, das ungerecht ist, braucht nicht befolgt werden. Man kann es vielleicht aus Angst vor Strafe befolgen, aber man ist dazu moralisch nicht mehr verpflichtet. Auf dieser Grundlage lässt sich in der politischen Philosophie auch darüber diskutieren, unter welchen Umständen man sich an einem Versuch beteiligen darf, eine Regierung zu stürzen – nämlich dann, wenn es sich um eine Willkürherrschaft handelt, die nicht mehr auf der Grundlage von Gesetzen regiert, oder dann, wenn „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird“ (Radbruchsche Formel).
Auf welche Weise man aus marxistischer Sicht einen Zugriff auf das Problem politischer Verpflichtung erlangen würde, braucht im Rahmen dieses Blogeintrags nicht abschließend beantwortet werden. Den Stellenwert, den bei anderen Theoretikern eine normative politische Philosophie hat (welche beansprucht, Konzepte wie ‚Gerechtigkeit‘ zu begründen), hat bei Marx aber offenbart die Geschichtstheorie. Im Kapital, Band 1, beschreibt Marx dies im 24. Kapitel als die Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation: „ […] die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. […] [Die Ära] der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ (MEW 23, S. 791) Die Begriffe, mit denen das »Manifest des Kommunistischen Partei« diese Entwicklung beschreibt, sind Klassenkampf und Revolution. Die Frage, ob die Revolution moralisch gerechtfertigt ist, diskutiert Marx gar nicht, seine Beschreibung des Kapitalismus spricht für sich. Wenn Marx diese Revolution prognostiziert, dann stellt sich die Frage, ob die Arbeiter verpflichten wären, den Gesetzen des kapitalistischen Staates zu gehorchen, gar nicht. Das ist damit gemeint, wenn man sagt, dass der Kapitalismus nicht legitim ist. Konkret heißt das: Die Gesetze, die es einem z.B. verbieten, zu streiken, brauchen nicht befolgt werden.
Smiths ambivalente Aussagen zur Arbeiterfrage
Bei Adam Smith im »Wohlstand der Nationen« kann der Lohn des Arbeiters so niedrig sein, dass er bloß dem Subsistenzniveau entspricht: „Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muß mindestens so hoch sein, daß er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründe; die Rasse der Arbeiter würde dann mit der ersten Generation aussterben.“ (Wohlstand der Nationen, S. 59) Im Original steht bei Adam Smith „race of such workmen“, Recktenwald übersetzt dies als „Schicht“ (der Arbeiter). Es kann aber für Smith durchaus vorkommen, dass der Arbeitslohn höher ist. Er beschreibt, wie die Arbeitskämpfe, bei denen die Arbeiter versuchen, höhere Löhne durchzusetzen, oft erfolglos sind. Manchmal haben die Arbeitskämpfe jedoch Erfolg: „Unter gewissen, für die Arbeiter günstigen Umständen gelingt es ihnen bisweilen jedoch, einen Lohn durchzusetzen, der beträchtlich über dieser Höhe des Existenzminimums liegt, also über den offensichtlich niedrigsten Satz, der noch mit unserer Vorstellung von Humantität vereinbar ist.“ (a.a.O., S. 60). Mit dem Begriff von Humanität verwendet Smith hier ein normatives Konzept. ‚Existenzminimum‘ ist übrigens auch eine Ergänzung Recktenwalds. Smith meint hier zwar das physische Existenzminium, aber diese Bezeichnung dafür gab es zu seiner Zeit wohl noch nicht. Im Folgenden vergleich Smith die Lage der Arbeiter in England mit jener in Nordamerika, China und Indien, und kommt zu dem Schluss, dass sie sich in England in den letzten Jahrzehnten verbessert hat, während sie in China seit der Zeit Marco Polos stagniert, und in dem von der britischen Ostindienkompanie verwalteten Bengalen Hungersnot herrscht.
Dann stellt Smith sich die Frage, ob „diese Verbesserung der Lebensumstände der unteren Schichten [in England] auch für die Gesellschaft als ganzes vorteilhaft oder nachteilig“ ist. Smith eigene Antwort ist folgende: „ […] ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weithin in Armut und Elend lebt. Es ist zudem nicht mehr recht als billig, wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, daß sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können.“ (a.a.O., S 68) Dies sieht nicht nur nach einer Affirmation des physischen Existenzminimums aus, sondern nach einer Unterstützung Smiths für das sozio-kulturelle Existenzminium, auch für die Ärmsten der Gesellschaft.
Trotzdem erachtet Smith das im Arbeitsvertrag vorliegende Abhängigkeitsverhältnis nicht grundsätzlich für kritikwürdig. Smith verfügt zwar über ein normatives Konzept, das hier jedoch nicht ‚Gerechtigkeit‘, sondern Menschlichkeit oder Humanität („humanity“ im englischen Original) heißt, welches er auf den Arbeitsvertrag im frühen Kapitalismus anwendet, aber dabei ergibt sich anscheinend, dass die niedrigen Löhne im Kapitalismus für Smith legitim sind. Offensichtlich wäre ein unteres Lohnniveau, welches das physische Existenzminium unterschreitet, nicht mit diesem Konzept von Menschlichkeit vereinbar; im Umkehrschluss folgt daraus aber, dass ein unteres Lohniveau, das diese Höhe aber gerade so erreicht, dann aber mit Smiths Konzept von Menschlichkeit vereinbar ist. Es wäre zwar fairer, wenn diejenigen, die „ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen“ mehr erhalten, (im englischen Original steht: „it is but equity“), aber so lange physische Existenzminimum abgedeckt ist, würde Smith einen niedrigen Lohn noch nicht als ‚unmenschlich‘ bezeichnen.
Damit ist das Problem keinesfalls hinreichend behandelt, aber zumindest ein Rahmen abgesteckt, in dem sich eine Debatte über die politische Einordnung von Adam Smith bewegen kann. Eine Regulierung des Arbeitsvertrages (ob jetzt durch einen gesetzlichen Mindestlohn, oder durch die Tarifverträge staatlich anerkannter Gewerkschaften) ist bei Smith zwar nicht vorgesehen, den kapitalistischen Wohlfahrtsstaats, der mit solchen Maßnahmen sicherstellt, dass die Arbeiter nicht nur über angemessene Kleidung, Wohnung und Ernährung verfügen, sondern auch über den 8-Stunden-Tag und, z.B. in Deutschland, mindestens 20 Tage bezahlten Urlaub, gibt es jedoch auch erst seit dem 20. Jahrhundert. Die Interpretation des Textes kann daher nur indirekt erschließen, wie Adam Smith sich wohl zum kapitalistischen Wohlfahrtsstaat positioniert hätte.
Ulrike Hermann ist in »Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung« (2016, S. 52) z.B. der Ansicht, dass Adam Smith die Entwicklung der Gewerkschaften „sicher begrüßt“ hätte, obwohl, es diese im 18. Jahrhundert noch nicht gab. So sicher, wie Hermann meint, ist das nicht. Wenn Adam Smith im »Wohlstand der Nationen« auf Arbeitskämpfe eingeht, beschreibt er diese als weitgehend wirkungslos. Unter „günstigen Umständen“ gelingt es den Arbeitern manchmal, höhere Löhne durchzusetzen, meistens setzten sich jedoch die kapitalistischen ‚Meister‘ durch: „ […] die Arbeiter [haben] mit den Gewalttätigkeiten bei solchen tumultartigen Aktionen recht selten Erfolg. Sie führen meist zu nichts anderem als zur Bestrafung oder zum Ruin der Rädelsführer […]“ (Wohlstand der Nationen, S. 59).
Selbst wenn Hermann mit ihrer These falsch liegen würde, könnten sich jene modernen Neoliberalen, welche die Errungenschaften der Arbeiterklasse am liebsten wieder abschaffen würden, trotzdem nur sehr schlecht auf Adam Smith berufen – denn in der Regel lehnen sie auch die progressive Besteuerung ab, welche Smith bereits gefordert hatte. Ich denke aber durchaus, dass Hermanns Interpretation hier in der Tendenz richtig ist, sie basiert allerdings bereits auf einer Modifikation von Smiths Theorie. Smith wäre von der erfolgreichen Entwicklung der Gewerkschaften im 19. und 20. Jahrhundert überrascht gewesen, hätte dann allerdings diesen Erfolg sehr wahrscheinlich begrüßt. Hermanns Interpretation stützt sich auf Smiths rudimentäre Gerechtigkeitstheorie, die in Aussagen wie jener, dass die Arbeiter sich „selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen“ sollen, enthalten ist, verwirft aber zugleich eine Aussage aus Smiths Wirtschaftstheorie über die Machtverhältnisse von Arbeiter und Kapitalist. Grundsätzlich ist diese Herangehensweise sinnvoll. Es ist nicht die Aufgabe der politischen Theorie, Klassiker wie Adam Smith (oder Karl Marx) als unübertreffbare Genies darzustellen, welche eindeutige Lösungen für die zur Debatte stehenden Probleme der Gegenwart bieten. Es kommt vielmehr darauf an, ihre jeweiligen Theorien verständlich darzustellen, und Elemente dieser Theorien eigenständig auf die Probleme der Gegenwart anzuwenden.
Eines dieser Elemente ist gerade die Analyse des Arbeitsvertrages als Machtverhältnis, und dieses Element findet sich eben nicht nur bei Marx, sondern auch bei Adam Smith. Um dies zu erkennen, ist die Auseinandersetzung mit dem Primärtext von Adam Smith unabdingbar.
Die Kritik des Luxus und der Stellenwert von Sympathie bei Adam Smith
Um zu verstehen, wie Adam Smith den kapitalistischen Arbeitsvertrag legitimiert, ist noch ein Blick in sein zweites Hauptwerk erforderlich, die »Theorie der ethischen Gefühle«. Dort findet sich die rhetorische Frage: „Was ist der Endzweck von Habsucht und Ehrgeiz und der Jagd nach Reichtum, Macht und Vorrang? Ist es der, den natürlichen Bedürfnissen Genüge zu tun? Der Lohn des geringsten Arbeiters reicht aus, um diese zu befriedigen. Wir sehen, daß er ihm Nahrung und Kleidung gewährt, den Komfort eines Hauses und einer Familie. Wenn wir seine Haushaltung streng prüften, dann würden wir finden, daß er einen großen Teil des Lohnes für Luxusbedürfnisse ausgibt, die als überflüssig betrachtet werden dürfen, […]“ (Theorie der ethischen Gefühle, S. 77)
Diese Aussage erfordert einige Erläuterungen. Das beste Beispiel für Luxuskonsum ist, in der modernen Gesellschaft, ein schnelles Auto. Wenn man eine vernünftige Stadtplanung hätte, dann bräuchte man in den Großstädten gar kein Auto, auf jeden Fall braucht niemand ein Auto, welches schneller fahren kann als 200 km/h. Solche Güter kauft man sich nicht, weil man sie braucht, sondern um damit angeben zu können. Andere Beispiel für Luxuskonsum sind teure Uhren und Handys. Adam Smith selbst verwendet eine Taschenuhr als Beispiel für ein Luxusgut. Zu seiner Zeit waren Uhren noch wesentlich ungenauer als heutzutage. Uhren, die am Tag zwei Minuten nachgehen, beschreibt Smith als üblich, Uhren, die im Monat zwei Minuten nach gehen, als teures Luxusgut. Aber diejenigen, die sich eine der teuren Uhren kaufen, sind nicht unbedingt pünktlicher (Theorie der ethischen Gefühle, S. 289f). Niemand brauchte im 18. Jahrhundert so eine Uhr; Pünktlichkeit auf die Minute wurde nicht erwartet, deswegen waren Uhren, die einige Minuten ungenau liefen, völlig ausreichend. Nicht nur anhand dieser Textpassage wird klar, dass Smith ein Leben in Luxus ethisch nicht für erstrebenswert erachtet. Deutlich geht dies auch aus seinen Ausführungen über den ehrgeizigen Mann, der, als „armer Leute Kind“ den sozialen Aufstieg anstrebt, und am Ende seines Lebens feststellt, dass „Reichtum und Größe bloßer Tand“ sind (a.a.O., S. 290-2), hervor.
Dies ist allerdings nur eine eingeschränkte, ethische Kritik des Luxus: Smith kommt zwar in seiner ethischen Theorie zu dem Schluss, dass Reichtum nicht glücklich macht; in der politischen Philosophie würde Smith jedoch eine Abschaffung des Luxus, und eine Beseitigung der ökonomischen Ungleichheiten, die diesem zu Grunde liegen, nicht fordern. Gerade deswegen hält er die niedrigen Löhne der Arbeiter für vertreterbar! Absolute Armut – dass für manche Menschen nicht einmal das physische Existenzminimum sichergestellt ist – wäre für Smith ein moralisches Problem. Die relative Armut hingegen, die aus der ökonomischen Ungleichheit im Kapitalismus resultiert und beinhaltet, dass sich manche Menschen deutlich weniger Luxus und Annehmlichkeiten leisten können als andere, ist für Smith kein moralisches Problem. Verglichen mit den Überlegungen von Jean-Jaques Rousseau zum Thema (mit dem sich Adam Smith ausführlich auseinandergesetzt hat), ist Smith alles anderer als radikal.
Rousseau würde, wie aus seinem Verfassungsentwurf für Korsika wohl am besten hervorgeht, den Luxus nach Möglichkeit ganz abschaffen. Er zieht eine Gesellschaft von spartanisch lebenden Selbstversorgern der, durch Arbeitsteilung und Tausch bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft vor. Adam Smith hingegen befürwortet die bürgerliche Gesellschaft, und steht folglich vor dem Anspruch, darzulegen, dass in dieser die Arbeiter wenigstens keinen Mangel an lebensnotwendigen Gütern leiden. Dennoch hat auch Smiths moderate Kritik des Luxus politische Konsequenzen. Smith begründet nämlich, wie sich an seinem Beispiel des erhöhten Wegegelds für Luxusfahrzeuge erkennen lässt, die Forderung nach einer progressiven Besteuerung (dass die Reichen einen höheren Anteil ihres Einkommens an Steuern zahlen sollen als die Armen) auch über die Kritik des Luxus.
Smith hat keine Theorie des Homo Oeconomicus!
Bestimmte sozialliberale Aspekte sind bei Adam Smith auf jeden Fall anzuerkennen, weil er gerade keine Gesellschaftstheorie vertritt, die ausschließlich von Eigeninteresse ausgeht. Bei der »Theorie der ethischen Gefühle« ist dies eindeutig (es ist buchstäblich der erste Satz der Abhandlung), aber es ließe sich auch für den »Wohlstand der Nationen zeigen«. Im Oktober 2020 hatte Rudolf Hickel in einem Interview zu den Konsequenzen der Coronakrise auf die Bedeutung von Sympathie bei Adam Smith hingewiesen: „Gegen den seelenlosen Homo Oeconomicus steht ein, wie es Adam Smith andeutete, emanzipatorischer Individualismus im Klima gesellschaftlicher Sympathie.“ Smith ist jedenfalls kein Vertreter einer Theorie des Homo Oeconomicus ist. Smiths ethische Theorie geht (anders als die von Hobbes und Mandeville) davon aus, dass Menschen nicht ausschließlich aus Eigeninteresse handeln.
Je nachdem, wie seelenlos die Präferenzordnung ist, die dem Homo Oeconomicus zugeschrieben werden soll, hätte dieser tatsächlich kein moralisches Problem, selbst im Wohlstand zu leben, während andere Menschen hungern. Als rücksichtsloser Egoist würde der Homo Oeconomicus sich sogar freuen, dass seine Konsumgüter preisgünstiger sind, wenn sie zu Hungerlöhnen produziert werden. Bei Adam Smith ist dies in der ethischen Theorie ausgeschlossen; Mitgefühl (Sympathie) ist eine der Grundlagen dieser Theorie; daraus ergibt sich ein Konzept von Humanität, und Hungerlöhne, die nicht einmal mehr das physische Existenzminimum abdecken, sind durch dieses Konzept von Humanität ausgeschlossen.
Ohne die wirtschaftstheoretische Annahme, dass im Kapitalismus für jede Arbeit immer ein Lohnniveau erreicht wird, das noch mit dem Konzept von Humanität vereinbar ist, geht es in der Interpretation von Adam Smith nicht. Vertreter eines konsequenten Laissez-faire, denen die Situation der Arbeiter im Kapitalismus völlig egal ist, können sich daher nicht auf Adam Smith berufen.