Kostenfreier ÖPNV, die Ausrichtung auf Pendler sowie die Unterschiede von Stadt und Land

Zur Debatte um den kostenfreien ÖPNV

Die bisherigen Beiträge zum Thema Öffentlicher Personen-Nahverkehr (ÖPNV) waren alle weitgehend unkontrovers, zumindest innerhalb der LINKEN.  Mein Fokus lag auf der Forderung nach zusätzlichen Investitionen in den ÖPNV, insbesondere in den schienengebunden ÖPNV. Hannover zählt zu jenen Großstädten, in denen sich das Verkehrsaufkommen durch die Pendler nur durch ein gut ausgebautes S-Bahn und U-Bahn-Netz bewältigen lässt. Kommunale Verkehrspolitik steht also in einem Ballungsraum wie der Region Hannover vor der Herausforderung, konkrete Vorschläge für den Ausbau den Schienennetzes zu entwickeln.

Exemplarisch lässt sich anhand einer Broschüre der Ema.li (einer der sog. ‚Strömungen‘ in der LINKEN) zeigen, welche weder auf die Notwendigkeit von zusätzlichen Investitionen, noch auf das Problem der fehlenden Akzeptanz des ÖPNV (beides in diesem Blogeintrag dargestellt in Bezug auf Straßenbahnen), noch auf die Unterschiede zwischen Städten verschiedener Größen, den Unterschied von Stadt und Land im Allgemeinen noch die Frage der Ausrichtung des ÖPNV auf Pendler eingeht. (Leider scheint der Download-Link nicht zu funktionieren: https://linke-bw.de/kv-bb/files/2020/12/OePNVBroschuere.pdf.)

Die Unterscheidung zwischen Stadt und Land wird auch in diesem Video des ZDF-Magazins ‚Volle Kanne‘ nicht berücksichtigt; Als Negativ-Beispiel wird dir die Großstadt Köln (1,1 Millionen Einwohner) verwendet, als Positiv-Beispiel die Stadt Templin (16.000 Einwohner). Wieso dieser Vergleich nicht zulässig ist, sollte offenkundig sein. In einem Ballungsraum wie Köln braucht man einen Schienenpersonalverkehr (SPNV), und der Form von U-Bahn (und/oder Straßenbahn) und S-Bahn. In einer Kleinstadt, die nicht direkt im Ballungsgebiet einer Großstadt liegt, kommt man hingegen gut mit Bussen für den ÖPNV aus. Es gibt zwar eine direkte Verbindung mit der Regionalbahn von Templin nach Berlin-Ostkreuz, aber diese hat eine Fahrtzeit von knapp 90 Minuten. Damit kommt Templin für Menschen die in Berlin arbeiten nur in absoluten Ausnahmefällen als Wohnort in Frage. Für solche Kleinstädte mit einer nur geringen Zahl von Auspendlern kann man ohne weiteres einen kostenlosen Nahverkehr oder zumindest ein preisgünstiges Jahresticket fordern (in Templin kostet es 44 €). Wenn man hingegen in Köln einen kostenlosen oder sehr preisgünstigen Nahverkehr fordern wollte, stellt sich die Frage, ob das bestehende Schienennetz des ÖPNV eine Zunahme der Zahl der NutzerInnen überhaupt bewältigen könnte. In Köln gibt es z.B. im S-Bahn-Netz den Engpass auf der Hohenzollernbrücke, dem man sich jetzt erst angenommen hat. Sehe dazu diesen kurzen Infofilm der Deutschen Bahn und ein Video von Lokalzeit Köln.

Wann genau die Schwelle erreicht ist, ab welcher der ÖPNV in einer Stadt nicht mehr allein mit Bussen zu bewältigen ist, lässt sich nicht ohne weiteres feststellen. Einen ersten Überblick über den aktuellen Status quo gibt es in diesem Video eines Youtubers: „Von den 81 deutschen Großstädten, also Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern, besitzen 36 keinen innerstädtischen Schienenpersonennahverkehr“; darunter auch vier Städte mit über 245.000 Einwohnern: Aachen, Kiel, Mönchengladbach, Wiesbaden sowie Münster mit 330.000 Einwohnern. Wenn man als Kommunalpolitiker in den genannten Städten aktiv ist, dann bietet es sich an, die Forderung nach einem kostenlosen oder preisgünstigen ÖPNV mit der Forderung nach dem Ausbau des Straßenbahnnetzes (oder überhaupt erst dessen Aufbau) zu verbinden, um die zu erwartende Zunahme der Zahl der NutzerInnen zu bewältigen.

Anhand der Bevölkerungszahlen lassen sich vielleicht drei verschiedene Ausgangssitutionen für den ÖPNV unterscheiden:

1) Eigenständige Klein- und Mittelstädte bis ca. 100.000 Einwohner

2) Großstädte zwischen 100.000 und ca. 450.000 Einwohner

3) Großstädte und Metropolen ab ca. 450.000 Einwohner

Für die erste Kategorie kann man direkt einen kostenlosen oder sehr preisgünstigen ÖPNV fordern, und die zusätzlichen Kapazitäten mit Bussen bereitstellen. Man braucht sicherlich ein Konzept für den Ausbau von Bushaltestelle und ggf. von eigenen Spuren für Busse an den Ampeln, aber keine umfassenden Investitionen. Bei den Kategorien 2 und 3 sieht das anders aus. Dort muss der kostenlose ÖPNV mit Investitionen in eine Straßenbahn, oder, in Großstädten ab ca. 450.000 Einwohner, mit Investitionen in die U-Bahn und S-Bahn verbunden werden.

Ausbau der Straßenbahnen und das Problem der fehlenden Akzeptanz des ÖPNV

Zu der zweiten Kategorie gehört auch Luxemburg (in der Stadt Luxemburg 110.000 Einwohner), das bekanntlich den kostenlosen Nahverkehr eingeführt hat. Der Fokus von François Bausch, dem luxemburgischen Verkehrsminister, in dem Interview in diesem Video des Saarländischen Rundfunks, liegt aber auf dem Ausbau des ÖPNV, nicht darauf, dass dieser nun kostenlos ist: „Das Grundkonzept ist, dass wir die Kapazität der Netze verbessern, die Qualität des Angebots verbessern, also ‚wie viel wird das Netz bedient‘ und auch wegkommen von der Logik der letzten Jahrzehnte das öffentlicher Verkehr nur für diejenigen ist, die kein Geld haben sich ein Auto zu leisten.“

Weitere Beispiele für den Ausbau oder Aufbau des Straßenbahnnetzes sind Darmstadt (160.000 Einwohner) und Wiesbaden (280.000 Einwohner). Hier ist Video der Hessenschau zum kostenlosen ÖPNV mit dem Beispiel Darmstadt, einer Stadt, die regelmäßig die höchsten Werte von Stickstoffdioxid in Hessen hat. 

In einem weiteren Video des Hessischen Rundfunks geht es um die Erweiterung der Straßenbahn Darmstadt um 2 Stationen – und um die Bürgerinitiative, die dagegen ist. Diese heißt: ‚Pro Lichtwiese‘. Sie wollen offenbar die Wiese, ohne Straßenbahn, behalten, auch wenn das heißt, dass die Studierenden die 1,2 km von der bestehenden Straßenbahnstation bis zur Technischen Universität „auch mal laufen“ können.

Krasser ist noch das Beispiel Wiesbaden. Dort waren alle Parteien im Stadtrat, mit Ausnahme der FDP, für den Bau der City-Bahn, damit Wiesbaden einen schienengebundenen ÖPNV hat. Aber obwohl man eine parlamentarische Mehrheit für das Projekt hatte, wird das Projekt in einer Volksabstimmung wegen der Sorgen um die Umwelt, den Lärm und die angeblich zu hohen Kosten gekippt. (Siehe dieses Video des ZDF ) Natürlich müssen einige Bäume gefällt werden, um eine Stadtbahn (mit von der Straße getrennten Gleiskörper) zu bauen. Aber zum einem sind es keine 400 Bäume, die gefällt werden müssen, wie Gegner der City-Bahn behauptet hatten, und zum anderen ist die Lebenserwartung von Stadtbäumen bei der Umweltverschmutzung durch die Autos mit Verbrennungsmotor sowieso begrenzt. Dies kann kein Argument sein. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, dass es sich bei den Gegnern des Baus von Straßenbahnen um jene Menschen handelt, die, wie es der luxemburgische Verkehrsminister beschreibt, der Meinung sind, dass der öffentliche Nahverkehr „nur für diejenigen ist, die kein Geld haben sich ein Auto zu leisten“. Wie sollte man sonst erklären, dass bei dem Bau einer Straßenbahn die Kosten plötzlich ein Problem sind, während die Kosten des Straßenbaus selbst nicht als Problem wahrgenommen werden. Dann handelt es sich bei der Ablehnung von Investitionen in den ÖPNV um eine Art ‚Klassenkampf von oben‘. Sonst hat man kein Problem damit, wenn der Staat Geld ausgibt, nur dann, wenn das Geld vermeintlich den Armen zu Gute kommen soll.   Man muss ja nicht gleich den Kommunismus und die Abschaffung der Klassenverhältnisse fordern. Aber die Klassengegensätze soweit zu reduzieren, dass es auch für Menschen der oberen Mittelschicht üblich ist, mit Bus und Straßenbahn zu fahren, das ist eine sinnvolle Forderung; sie wird sogar vom luxemburgischen Verkehrsminister vertreten.

Schließlich müssen Menschen aller Einkommensschichten zu ihren Arbeitsplätzen in der Großstadt pendeln – wenn jeder, der es sich leisten kann, dafür mit dem Auto fahren will, dann bricht in der Hauptverkehrszeit der Verkehr zusammen. Es ist die Aufgabe des Staates (konkret: der jeweiligen regionalen Verwaltung) einen gut ausgebauten ÖPNV bereit zu stellen, damit alle Menschen, unabhängig von ihren Einkommen, zu ihren Arbeitsplätzen in den Zentren der Großstädte kommen. Diese Funktion als ‚ideeller Gesamtkapitalist‘ kann der Staat natürlich nur dann ausüben, wenn die Kapitalisten und die bürgerlichen Mittelschichten bereit sind, die nötiger Infrastruktur zu subventionieren – wenn sie nicht einmal verstehen, dass sie dies in ihrem eigenen Interesse tun sollten, dann können sie natürlich in Zukunft weiter auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen.

Mehr Investitionen für einen schnelleren ÖPNV für Pendler

Hinter der Forderung nach einem kostenfreien öffentlichen Nahverkehr verbirgt sich eine weitergehende Forderung: Die nach einer Verringerung der Subventionen für den Autoverkehr, und einer Erhöhung der Subventionen für die Öffentlichen Nahverkehr.  Das bereits verlinkte Video des ZDF-Magazins ‚Volle Kanne‘ lässt dazu den Verkehrsexperten Heiner Monheim zu Wort kommen: „‘Die Autolobby behauptet immer, das ist alles bezahlt.  Wir haben ja Mineralölsteuer und Kraftfahrzeugsteuer – das deckt nur einen Bruchteil dieser Kosten.‘ Diese Kosten würden verschwiegen. ‚Der Autoverkehr ist hoch defizitär, aber wir reden nie darüber, weil das alles ein bisschen versteckt wird.‘“ Das Problem, für das der Experte hier das Fachwort nicht nennt, ist das der externen Kosten bzw. externen Effekten (Wikipedia). Wenn man diese Kosten mit einbezieht wird der Autoverkehr (der sog. motorisierte Individualverkehr) stärker subventioniert als der ÖPNV. „Bisher steckt er [der Staat] 80% aller Mobilitätsinvestitionen in den Autoverkehr.“ Dieses Verhältnis gelte es umzudrehen: 80% in den ÖPNV, 20 % in den Autoverkehr. 

Ein anderes Video des ZDF https://www.youtube.com/watch?v=xJAGIp9er60 beschreibt ausführlich zwei negative Aspekte des Autoverkehrs: Stau und Feinstaubbelastung.  Der dort zitierte Experte, Prof. Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen schlägt den kostenfreien ÖPNV als Teil der Lösung vor: „‚Ich habe immer gefordert den kostenfreien ÖPNV einzuführen. Das hätte Probleme in der Kapazität – wir müssen erst mal überhaupt die Züge haben, und die Strecken, die das bewältigen können. Das würde Deutschlandweit insgesamt rund 12 Milliarden kosten, an Tickets die eben nicht eingelöst werden.‘ Mittelfristig würde das aber den Verkehr auf den Straßen entlasten, sagt der Experte.“

Es ist aber nicht nur eine Frage der Kapazität. In dem Video findet man auch den Hinweis auf eine Studie, nach der man in den meisten deutschen Großstädten, mit Ausnahme von München und Berlin, mit ÖPNV oder Fahrrad länger unterwegs ist, als mit dem Auto: „In fast allen anderen berücksichtigten Städten braucht man mit dem Rad anderthalb bis doppelt so lange wie mit dem Auto und mit Bus und Bahn sogar mehr als doppelt so lang.“ Deswegen ist an dieser Stelle noch einmal (wie bereits in den vorherigen Blogeinträgen) der Hinweis auf das Downs-Thompson-Paradox angebracht. Wenn man will, dass die Pendler vom Auto auf den ÖPNV umsteigen, dann muss man den ÖPNV so ausbauen, dass man damit schneller ist als mit dem Auto. Das ist die einzige praktische Möglichkeit, die Staus des Berufsverkehrs zu reduzieren.

Das Motiv der Pendler, möglichst schnell zur Arbeit zu kommen, ist auf jeden Fall verständlich. Ein Anlass für mich, mich in das Thema einzuarbeiten, war eine Debatte in der Bürgerfragestunde auf einer Sitzung des Verkehrsausschusses in Gehrden. Ein Bürger der Stadt hat es mal ausgerechnet. Mit Bus und Bahn braucht er 16 Minuten länger zur Arbeit als mit dem Auto. Hin- und zurück sind das 32 Minuten, bei 230 Arbeitstagen im Jahr dann insgesamt 122 Stunden, 40 Minuten bzw. mehr als 5 volle Tage. Bei einer 36-Stunden-Woche verbringt er also faktisch 3 volle Arbeitswochen extra beim Pendeln. Es geht nicht um das Geld, sondern um Lebenszeit. Die einzige Möglichkeit, diesen Bürger vom Umstieg auf Bus und Bahn zu überzeugen, wäre, wenn diese mindestens genauso schnell sind wie das Auto. Kostenfreier Nahverkehr ist also nur ein Teil der Strategie für die Verkehrswende, um Investitionen, die bislang für den Autoverkehr eingesetzt wurden, für den ÖPNV umzuschichten.

Zu einem ähnlichen Fazit kommt ein Kommentar auf zeit.de: „Der Ticketpreis – das zeigen Umfragen immer wieder – ist nicht der entscheidende Faktor, warum sich Menschen gegen Bus und Bahn und fürs Auto entscheiden. Die Mehrheit meidet den ÖPNV nicht, weil sie ihn für zu teuer hält, sondern für zu schlecht. Muss man mehr als ein Mal umsteigen, winken viele schon ab und setzen sich ins Auto. Zu Pünktlichkeit und der Frage, wie häufig Bus und Bahn im konkreten Fall überhaupt fahren, kommen weiche Faktoren wie Komfort, die Sauberkeit in den Fahrzeugen oder das Sicherheitsempfinden. Es gibt noch viel zu tun, um den Nahverkehr attraktiver zu machen: mit einem dichteren Netz und geringeren Takten auch in den Nebenzeiten. Wenn man dann noch an wichtigen Knotenpunkten den ÖPNV mit Carsharing clever verknüpft und dort Fahrradparkhäuser errichtet, um den Umstieg von einem Verkehrsmittel auf ein anderes zu erleichtern, dann wäre viel gewonnen. Mehr als lediglich mit Gratisbusfahrten. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Ein solcher Ausbau braucht Zeit. Umso dringender ist es, zügig damit anzufangen.“ 

Was dieser Kommentar auf zeit.de unterschlägt ist natürlich, dass der Ticketpreis für einen Teil der Bevölkerung nämlich doch entscheiden sein kann – nämlich jene Menschen, die zu arm sind, sich um ein Auto leisten zu können, oder die, aufgrund von Alter oder aus gesundheitlichen Gründen, keinen Führerschein haben: Also Arbeitslose, prekär Beschäftigte, SchülerInnen, Auszubildende und Studierende, sowie Behinderte und Senioren. Wir können zwar davon ausgehen, dass fast jeder Erwachsene, der einen nicht-prekären Vollzeitjob hat, über ein Auto verfügt, aber für jene Gruppen ist es wichtig, dass es überhaupt eine ÖPNV-Verbindung gibt, und nicht, dass diese schneller ist, als die direkte Fahrt mit dem Auto. Um die Interessen dieser Gruppen zu vertreten müssen wir dort, wo ein entsprechender Ausbau des Nahverkehrs möglich ist, das fordern. Es gibt aber auch vielleicht ländlichen Regionen, in denen ein solcher Ausbau nicht möglich ist.

Wie weit soll der ÖPNV im ländlichen Raum ausgebaut werden?

Das Pendeln, auch über längere Distanzen, ist in den Großstädten für viele Menschen unvermeidlich, weil der Wohnraum knapp ist. Aber natürlich ist es auch schöner, in einem der Vororte mit Feldern (oder sogar Wäldern) zu leben, oder in einem Viertel mit schönen Altbauten, als direkt in der Nähe der Gewerbegebiete, in denen die Arbeitsplätze sind.  Sehr hilfreich fand ich dafür diesen Artikel der FAZ: „Entscheidend für das Stressgefühl ist gar nicht so sehr die Entfernung, die jemand zurücklegt, sondern die Zeit, die er mit dem Pendeln verbringt. Ab 90 Minuten pro Tag – also 45 Minuten pro Strecke – führt Pendeln nach Häfners Erfahrung vermehrt zu Stress.“

Diese 45 Minuten sind eine Zahl, die gut als Grundlage für Diskussionen um die Planung des ÖPNV taugt. Als Beispiel dazu die Diskussion um die Reaktivierung der Aartalbahn in Hessen: In diesem (älteren) Video dazu wird die Reaktivierung der Strecke so begründet: „Es geht aber nicht nur darum den öffentlichen Nahverkehr in den Ballungsräumen zu stärken sondern vor allem auch darum den ländlichen Raum wieder stärker ans Schienennetz anzubinden.“ Was ist hier mit „ländlichem Raum“ gemeint? Von Bad Schwalbach sind es mit dem Auto in die Stadtzentren von Wiesbaden und Mainz < 45 min (laut Google), angenommen, man steht nicht im Stau. Deswegen sollte man nach Möglichkeit diese Strecke für die S-Bahn-Rhein-Main (Wikipedia) oder eine City-Bahn Wiesbaden (Wikipedia) reaktiveren. Jenes 45-Minuten-Kriterium ermöglicht die Unterscheidung des Umlands der Großstädte vom sog. ‚ländlichen Raum‘. Der ländliche Raum ist dort wo man weiter als ca. 45 min Fahrtzeit von der nächsten Großstadt (oder Mittelstadt mit nennenswerten Industrie- und Dienstleistungsbeitrieben) entfernt ist, und es außer Landwirtschaft und sowie ggf. Forstwirtschaft, Tourismus oder Fischerei fast gar kein Gewerbe gibt. Dort wäre die Reaktivierung von Bahnstrecken weniger sinnvoll, und könnte nur ggf. für den Tourismus und die Forstwirtschaft Sinn ergeben. Im Umland der Großstädte hingegen ist jede Möglichkeit zur Reaktivierung von Schienenstrecken zu nutzen, um den Verkehr vom Auto auf die Schiene zu verlagern und die, in den meisten Großstädten, hohe Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt durch eine Expansion in die Fläche zu reduzieren.

Wenn man von diesen drei Kategorien ausgeht (1. Großstädte, 2. Umland der Großstädte, 3. Ländlicher Raum), dann ist langfristig davon auszugehen, dass die Bevölkerungszahl in den Regionen der Kategorie 1 &2 weiterwachsen wird, und in der Kategorie 3 schrumpfen wird. Wie dies im Extremfall aussieht, lässt sich an einer Homestory (Video auf Youtube) über ein County in Nebraska, USA, in denen es Gemeinden mit nur noch 2 oder 1 Einwohner gibt, erkennen. In den 1950ern waren dies noch vollständige Kleinstädte, mit Rathaus, Kirche und Grundschule. Da es sich rechtlich immer noch um incorporated towns handelt (Wikipedia), führt dies im Extremfall dazu, dass eine Person zugleich Bürgermeisterin und einzige Einwohnerin und Steuerzahlerin ist. Diese Entvölkerung von rein landwirtschaftlich (oder forstwirtschaftlich) geprägten Regionen ist in der modernen Entwicklung unvermeidlich. Der Produktivkraftfortschritt führt dazu, dass die nötige Arbeit von viel weniger Personen erledigt werden kann, und die Verfügbarkeit von Autos und der Ausbau des Straßennetzes führt dazu, dass diese Personen viel größere Distanzen zurücklegen könne. Jene rein agrarischen geprägten Kleinstädte verfügten wahrscheinlich bis zur irgendwann 1950-80 über eine Werkstatt, in welcher örtliche Landwirte ihre Maschinen reparieren lassen konnten; jetzt kann der Mechaniker aus einer großen Stadt im Umkreis von 200 km kommen.  In Deutschland ist das Problem natürlich nicht so extrem, wird aber auch thematisiert, z.B. in diesem Artikel von Zeit Online von 2013:  „Wenn jemand in die Einöde ziehen will, dann ist das sein gutes Recht“, sagt [der von der Zeit interviewte Architekt] Philipp Oswalt. „Dass man ihm das aber subventioniert, ist ja eigentlich nicht einzusehen! Dass jemand sich ein billiges Grundstück kauft und wir ihm noch Bus und Strom bezahlen, Wasser, Abwasser, Straßen.“ Denn Infrastruktur, die nur wenige nutzen, sei wesentlich teurer. ‚Notfalls muss man auch mal eine Straße stilllegen‘, sagt Oswalt.“

Ich würde gerne herausfinden, welchen Umfang dieses Problem tatsächlich hat, d.h., in wie vielen Kommunen in Deutschland langfristig mit einem Bevölkerungsschwund zu rechnen ist, und wie sich diese Kommunen regional verteilen. Das beste Datenmaterial was ich bislang dazu öffentlich zugänglich gefunden habe, ist eine Studie zu Demografietypen der Bertelsman-Stiftung. Die in dieser Studie verwendeten Kategorien sind aber nicht unbedingt sinnvoll. Die eingangs in diesem Blogeintrag als Beispiel für einen preisgünstigen ÖPNV verwendete Kommune Templin in Brandenburg wird in der Studie z.B. als Typ 2 klassifiziert: ‚Alternde Städte und Gemeinden mit sozioökonomischen Herausforderungen‘. Bei dieser Formulierung ist nicht klar, was die Ursache und was die Wirkung ist. In stärkere Alterung der Bevölkerung als in anderen Gemeinden ist das unvermeidliche Resultat, wenn es in einer Region keine höheren Bildungseinrichtungen und weniger Arbeitsplätze in der Industrie und im Dienstleistungssektor gibt als in anderen Regionen. Die jungen Leute ziehen weg, die Alten bleiben dort. Was eigentlich erforderlich wäre, ist eine Karte, aus der jeweils hervorgeht, wie viele der Menschen, die in einer Gemeinde wohnen, im Primärsektor (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Bergbau), im Tourismus, und in Industrie, Gewerbe und Dienstleistung arbeiten. Da für den Primärsektor nur noch wenige Arbeitskräfte benötigt werden, wird die Bevölkerung in den Regionen, wo kaum Arbeitsplätze im Industrie- und Dienstleistungssektor und keinen Tourismus gibt, langfristig niedrig sein. Templin gehört nicht in diese Kategorie, weil es dort Potential für Tourismus gibt. Gerade um dieses Potential als Luftkurort nicht kaputt zu machen wurde dort in den 1990ern der kostenfreie ÖPNV eingeführt. Und da Templin nahe genug an Berlin ist, um als Ausflugsziel für Tagestouristen in Frage zu kommen, ist dies sicherlich eine richtige Strategie. Welche Strategie für Kommunen in Frage kommt, in denen es tatsächlich nur noch Landwirtschaft (oder Forstwirtschaft) gibt, und sonst fast kein Gewerbe, das kann ich an dieser Stelle noch nicht sagen. 

Ein Punkt, auf den ich noch eingehen will, ist allerdings klar. Zu denjenigen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, gehören insbesondere auch SchülerInnen und Auszubildende. SchülerInnen haben einen Rechtsanspruch auf eine Busbeförderung zur Schule, Auszubildende jedoch nicht. Deswegen ist es durchaus verständlich, wenn auf dem Land die Jugendlichen zum 18. Geburtstag nicht nur den Führerschein finanziert bekommen, sondern auch gleich ein Auto geschenkt kriegen – ohne Auto kommt man dort nämlich nicht zum Ausbildungsplatz. Aber bei weitem nicht alle Familien sind wohlhabend genug, ihren Kindern ein Auto finanzieren zu können. Diese Situation der Auszubildenden wird in einem Video des SWR thematisiert. Natürlich wird die interviewte angehende Frisörin ihren Führerschein machen und mit dem Auto zur Arbeit kommen, sobald das Geld dafür da ist. Obwohl ihr Arbeitsort sicherlich zu den Ballungsräumen Rhein-Main (ca. 30 Minuten mit dem Auto nach Mainz) und Rhein-Neckar (ca. 40 Minuten mit dem Auto nach Mannheim) zu zählen ist, es also sich noch nicht im wirklich ‚ländlichen Raum‘ handelt, ist der ÖPNV dort zu schlecht ausgebaut. Grundsätzlich ist das auch ok (wobei aus ökologischer Sicht in mittlerer Zukunft natürlich Elektroautos erstrebenswert sind), einen dringenden Bedarf für den Ausbau des ÖPNV besteht nur dann, wenn die Pendler aus Vororten wie Alzey sich zur Hauptverkehrszeit auf den Bundesstraßen und Autobahnen in Mainz und Mannheim stauen. Da man aber von Jugendlichen zu Begin einer Ausbildung Führerschein und Auto weder voraussetzen kann, noch sollte, brauchen Auszubildende einen Rechtsanspruch für eine ÖPNV-Anbindung zu ihrem Ausbildungsplatz. Wenn das, innerhalb vernünftiger Parameter, durch Linienverbindungen nicht zu leisten ist, dann muss der Landkreis oder die jeweilige Gemeinde zur Hauptverkehrszeit einen Bus-On-Demand anbieten, welche die Auszubildenden abholt und direkt zu ihrem Ausbildungsplatz bringt; in dem Video wird das kurz angesprochen, der Name in diesem Beispiel in der Region Hannover ist ‚Bus-on-Demand‘. Mehr Bus-On-Demand-Verkehre schlägt im Übrigen der bereits zitierte Architekt Philipp Oswalt auch in einem Interview mit dem Spiegel vor. Was ich bei dem Interview nicht verstehe ist, wieso keine Unterscheidung zwischen dem Umland der Großstädte (der „Peripherie“) und dem ländlichen Raum im eigentlichen Sinne gemacht wird. Oswalt bringt die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Fortschritte beim Autonomen Fahren zu einer „neuen Zersiedlung“ führen könnten: „Pendler werden in der Lage sein, ihre Fahrzeit anders zu nutzen. Die Leute werden dorthin abwandern, wo der Boden billig ist – in die Peripherie. Autonomer Verkehr könnte zu einer neuen Zersiedelung führen.“ Deswegen will ich das zum Abschluss noch einmal klar stellen: Wenn sie mit dem Auto innerhalb von 45 Minuten zum Zentrum einer Großstadt kommen, dann wohnen sie nicht auf dem Land. Die Zersiedlung der Landschaft ist da nicht das Hauptproblem, sondern dass die Autos, wenn sie dann zur Hauptverkehrszeit vom ‚Land‘ in die Stadt fahren, das Straßennetz verstopfen. Schon allein deswegen braucht man den Ausbau des ÖPNV.

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