Experten und ihre Prognosen sowie die Finanzierung des ÖPNV
An dieser Stelle ist zunächst eine Anmerkung zum Sinn dieser kleinen Artikelserie angebracht. In einer parlamentarischen Demokratie entscheiden selbstverständlich die Parlamente über die Investitionen in Straßen, Schienen und den öffentlichen Nahverkehr. Dies heißt aber nicht, dass die Initiative zu diesen Entscheidungen von den Parlamenten ausgeht; Im Gegenteil: Die sachlichen Grundlagen dieser Entscheidungen sind vergleichsweise komplex, und da den Abgeordneten der jeweiligen Parlamente meistens die Fachkenntnisse fehlen, bestimmte Informationen zu ermitteln, ist man darauf angewiesen, dass einem die Verwaltung die nötigen Informationen liefert. Im vielen Fällen geht die Initiative für Verkehrsprojekte (und Baugebiete, etc.) von der Verwaltung oder den jeweiligen Verkehrsbetrieben (bzw. der Deutschen Bahn) aus, und die jeweiligen Parlamente winken das Konzept dann effektiv durch.
Aber was soll die Politik machen, wenn Experten unterschiedlich Meinungen haben? Dies soll ja, so ein Video des Bayrischen Rundfunks, eine der Gründe für die Verzögerung beim Ausbau Güterverkehrstrasse des Brenner-Nordzulauf im Landkreis Rosenheim sein: „Es ist kaum zu glauben. In einem gesamteuropäischen Verkehrsprojekt arbeitet offenbar jeder nach seinen eigenen Prognosen und Zahlen. Und so kommt es, dass in Österreich und Italien schon fleißig gebaut wird, während in Deutschland noch geplant wird. Kurios, aber wahr.“ Natürlich ist man als Politiker nicht in der Lage, selbst die Daten zu erheben und die Prognosen anzustellen, die man braucht, um die Notwendigkeit solcher Infrastrukturprojekte zu belegen. Meistens geht die Initiative für solche Investitionen daher auch von der Verwaltung aus. Nur was soll man tun, wenn verschiedene Ebenen (in diesem Fall EU und BRD) unterschiedliche Auffassungen von den Zahlen haben und unterschiedliche Prognosen machen? Verkehrsplanung und Stadtplanung sind nämlich keinesfalls objektive Wissenschaften, bei denen man den Experten vertrauen kann – dies fällt einem spätestens bei der Kontroverse zwischen den Befürwortern und Gegnern des Autoverkehrs auf. Es geht dann wohl nur so, dass PolitikerInnen, die sich halbwegs mit der Materie auskennen, eine politische Entscheidung fällen. In diesem Fall wäre dies eine Entscheidung für die optimistische Prognose über den Güterverkehr auf der Schiene gewesen.
Das größte Problem mit Experten und Planungen im Bereich von Investitionen für die Bahn ist sicherlich Stuttgart 21: „Mein Gott, wer plant den auch so was? – Ja unabhängige Wissenschaftler, die abhängig von der Bahn sind.“ Für eine qualifizierte Stellungnahme zu dem Thema reicht dieser Hinweis auf ein Satirevideo von ‚Die Anstalt‘ natürlich nicht. Daher stattdessen, als weiteres Beispiel, ein Hinweis auf die Probleme bei der Berliner U-Bahn. In einem Interview in einer Kurzdoku des Rundfunk Berlin Brandenburg erklärt die Leiterin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Sigrid Nikutta, diese Probleme damit, dass die Prognosen der Experten zur Fahrgastentwicklung falsch waren: „Die Grundthematik die wir haben ist, dass die Prognose für Berlin, die Prognose, wie viele Fahrgäste die BVG haben wird, in den vorherigen Jahren ganz anders war. Man ist also eher von einem stabilen Kurs ausgegangen […] also man ging davon aus, es bleibt irgendwie gleich. Es steigt aber deutlich an […] das führt […] zu einer zunehmenden Belastung der U-Bahn-Fahrzeuge.“
Zunächst bringt die Kurzdoku des RBB, die mit dieser differenzierten Herangehensweise gut gelungen ist, unter Berufung auf Insider, eine andere Erklärung für die Probleme der Berliner U-Bahn – das ‚Sarrazin-Loch‘! „Seit 2013 hat sich die Zahl der ausgefallenen U-Bahn-Kilometer [in Berlin] nahezu versiebentfacht. [… ] wegen schadhafter Fahrzeuge; ein Grund: Die Flotte ist völlig überaltert. Über etliche Jahre wurde Null Neufahrzeuge beschafft, Insider sprechen vom sog. ‚Sarrazin-Loch‘, nach dem damaligen SPD-Finanzsenator, der die BVG Anfang des Jahrtausends zum Sparen zwang. Doch Altfahrzeuge lassen sich nicht unbegrenzt ertüchtigen, erfuhren BVG-Chefin und Senat im vergangenen Jahr. Wegen irreparabler Haarrisse müssen etliche Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen werden.“ Personalmangel, fehlende Ausstattung und, aus Sicht des Personalrates, inkompetente externe Berater bei den Werkstätten, welche sich um Wartung und Instandhaltung der Wagen kümmern, sind zusätzlich Teil des Problems. Die BVG-Chefin, Sigrid Nikutta, signalisiert zumindest, dass die durch den Spardruck verursachten Probleme im Griff sind. Auf die Frage, ob die jetzt vorgesehen 1,4 Milliarden € jährlich zur Finanzierung der Berliner Verkehrsbetriebe reichen werde, antwortet sie: „ Wichtig ist, zu sagen, der [öffentliche] Nahverkehr in dieser Stadt hat Vorrang und wird entsprechend vorausschauend ausgestattet.“ Es kommt darauf an, langfristig zu planen. Ob die Summe reicht, wird davon abhängen, „was Berlin von der BVG möchte. Wie viele mehr Takte, wie viel mehr Züge, wieviel Elektromobilität, das sind […] die Stellschrauben, die wir haben.“
Diese Herangehensweise Sigrid Nikuttas ist professionell. Es ist die Aufgabe der Verwaltung (und der in ihrer Hand stehenden Anstalten öffentlichen Rechts, wie den Berliner Verkehrsbetrieben), die Vorgaben der Politik umzusetzen. Wenn die Politik – konkret also der damalige SPD-Finanzsenator Sarrazin – die Vorgabe macht, Geld zu sparen, dann muss man das, als Weisungsempfänger, machen. Umgekehrt kann die Politik natürlich auch sagen, dass sie gerne mehr Geld ausgeben würde – oder dass sie gerne bestimmte Leistungen (eine bestimmte Taktung von Bussen und Bahnen, bestimmte neue Verbindungen, etc. ) hätte, und dann haben die Verkehrsbetriebe die vorzurechnen, wie viel das kosten würde, und die Politik muss das Geld dafür bereit stellen.
Leider sind die Aussagen der Verwaltung, und die von externen Experten, nicht unbedingt verlässlich. Jene Prognose, dass die Fahrgastentwicklung bei der Berliner U-Bahn nicht steigen würde – könnte es sein, dass das nur ein Gefälligkeitsgutachten gehandelt hat? Das Beispiel von Stuttgart 21 hatte ich schon genannt. Deswegen noch ein weiteres Negativ-Beispiel. Wie in diesem Video des WDR zu erfahren ist, wollte die Stadt Mülheim/Ruhr 2019 den Zuschuss zum ÖPNV um 7 Millionen € kürzen. Der interviewte Verkehrsdezernent der Stadt begründete dies damit, dass jemand, der kein Geld hat, sich einen teuren Anzug zu kaufen, ja gezwungen ist, einen preisgünstigeren zu wählen. Er ist übrigens Mitglied der CDU. Was hier offenbar nicht verstanden wurde, ist der Unterschied zwischen den Ausgaben eines Individuums, und den Ausgaben der Gesellschaft. Wenn Menschen in Städten wohnen, in denen viele Arbeitsplätze nicht zu Fuß erreichbar sind, muss sich die Gesellschaft in irgendeiner Weise darauf verständen, wie man gemeinsam den Verkehr planen will. Wenn man beim ÖPNV sparen will, bedeutet dies mehr Autoverkehr, und in den Großstädten damit unvermeidlich mehr Stau. Stau gibt es aber bereits genug. Diese Video des ZDF erläutert dies mit dem Verweis auf eine Studie zu den Staus in deutschen Großstädten: „Als Hauptgrund für den dichten Verkehr sehen Experten die schiere Überlastung der Straßen, das sind ungefähr 60 bis 70 Prozent aller Staus die dadurch entstehen […]“ Dies liegt „vor allem daran dass der öffentliche Nahverkehr aber auch Radfahren nicht unbedingt einen Zeitgewinn versprechen. Nur in München und Berlin braucht man demnach mit Auto, ÖPNV und Fahrrad etwa gleich lang. In fast allen anderen berücksichtigten Städten braucht man mit dem Rad anderthalb bis doppelt so lange wie mit dem Auto und mit Bus und Bahn sogar mehr als doppelt so lang.“ Das heißt aber auch, wenn es gelingt, die Fahrzeit mit Bus und Bahn in jenen anderen Großstädten mehr als zu halbieren, dann würden dort die Staus, bis auf einige Engpässe, verschwinden. Dies ist eine Variante des Downs-Thompson-Paradox: Wenn man den öffentlichen Nahverkehr ausbaut, führt dies in Großstädten zu weniger Autoverkehr.
Man kann die Entscheidungen über Verkehrsplanung nicht den Experten überlassen. Im Idealfall müssten daher die Politiker, und die an solchen Themen interessierte Öffentlichkeit, in der Lage sein, die Aussagen dieser Experten selbständig zu überprüfen; und dann müsste eigentlich eine öffentliche Debatte stattfinden, wie viel Geld eine Region bereit ist, für den öffentlichen Nahverkehr auszugeben, und welche Investitionen davon umgesetzt werden sollen.
S-Bahn-Ausbau und die Investitionen ins Schienennetz
Damit kann ich zu einem Positivbeispiel kommen, wie das Zusammenspiel von Politik und Verwaltung funktionieren kann, nämlich der Ausbau der S-Bahnen in Wien. Dort hat die Oppositionspartei NEOS eine elfte S-Bahn-Linie gefordert (Video vom ORF). Diese Initiative war insofern ein Erfolg, dass daraufhin von den Österreichischen Bundesbahnen und andere Akteure ein eigenes Konzept zum Ausbau des Wiener S-Bahn-Netzes vorgelegt wurde (Video des ORF). Der Schlusssatz der Sprecherin ist gut: „Sobald die Bundesregierung steht, fährt quasi verhandlungsmäßig der Zug ab, damit noch mehr Menschen ihr Auto stehen lassen, in einer Großstadt, die schon in ein paar Jahren mehr als 2 Millionen Einwohner haben wird.“ Natürlich muss man das S-Bahn-Netz nicht ausbauen. Aber dann wird die Zahl der Autofahrer auf jeden Fall nicht weniger, und sehr wahrscheinlich werden die Autofahrer mehr, wenn die jeweilige Großstadt wächst. In Wien ist man sich nämlich des Problems, das mir als Downs-Thompson-Paradox bekannt ist, dank der Arbeit von Hermann Knoflacher (Wikipedia), gut bewusst, wie in diesem Video gezeigt wird.
Dieses Bewusstsein über die Grenzen des motorisierten Individualverkehrs kann aber offenbar nicht immer vorausgesetzt werden, wie dieses Beispiel aus Hannover zeigt: An dem Neubau des Südschnellwegs führt zwar kein Weg vorbei, aber wer auch immer einen solchen Vorschlag wie der im Bundesverkehrswegeplan, die B65 zwischen Empelde und Ricklinger Kreisel 3-spurig auszubauen, zu verantworten hat, hat das Problem mit dem Down-Thompson-Paradox noch nicht verstanden hat. Anstatt dem Autoverkehr mehr Raum zu geben, brauchen wir dort, wo die Zahl der Pendler am größten ist, neue oder bessere S-Bahn-Verbindungen, und dafür brauchen wir in Hannover konkrete Vorschläge. Wenn es auf den bestehenden Strecken der Bahn noch Kapazitäten gibt, könnte das relativ einfach sein, und würde nur den Neubau einiger S-Bahn-Stationen erfordern. Wahrscheinlich sind jedoch größere Investitionen ins Schienennetz erforderlich, und dies würde, davon gehe ich zumindest bis auf weiteres aus, Einträge in den Bundesverkehrswegeplan erfordern.
Ich würde daher gerne ein Konzept für Ausbau der S-Bahn in Hannover entwickeln. Natürlich würde ein solches Konzept nicht direkt umgesetzt werden, insbesondere, wenn man den Ausbau der S-Bahn aus der Opposition herausfordert. Aber das ist gar nicht das Ziel. Das Zusammenspiel von Politik und Verwaltung ist eine Art Ping-Pong. Wenn man als Oppositionspartei einen konkreten Vorschlag für den Ausbau der S-Bahn entwickelt, dann ist sind die anderen Parteien gezwungen, einen eigenen Vorschlag zu machen – oder die eigene Partei hat beim nächsten Wahlkampf ein Alleinstellungsmerkmal. Die Parteien, welche den Oberbürgermeister oder den Regionspräsidenten stellen, haben natürlich nicht die Notwendigkeit, dafür die Ressourcen ihrer Partei zu verwenden – sie können die Verwaltung beauftragen, wenn sie denn den Ausbau des S-Bahn-Netzes auch als finanzielle Priorität wahrnehmen.
Der Vorzug, den ich als Mitglied der LINKEN in der Debatte habe, ist natürlich, dass im Programm meiner Partei schon immer die Forderung nach höheren Steuern für Reiche enthalten ist. Diese Steuern sind keinesfalls ein Selbstzweck – es geht darum, dass der Staat über das Geld verfügt, um eine gute öffentliche Infrastruktur für alle Einwohner zur Verfügung zu stellen. Mobilität ist ein Grundrecht, auch für diejenigen, die nicht über ein eigens Auto verfügen – also SchülerInnen, viele Studierende, SeniorInnen, Menschen, die nicht das Geld haben, sich ein Auto zu leisten, und jene Menschen, die bewusst auf ein Auto verzichten wollen. Bereits aus sozialen Gründen ist also ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr geboten.
Aber auch wenn man Verkehrspolitik nicht unter sozialen Gesichtspunkten betrachten will, also die Position der FDP (und auch der CDU?) einnimmt, kann man mehr Geld für den ÖPNV ausgehen. In einen Negativ-Ranking des Handelsblatt ist Hannover beim Stau in den deutschen Großstädten auf Platz 8. Die gesellschaftlichen Kosten des Staus in Hannover werden mit jährlich 68 Mio. € beziffert. Wenn also eine Investition in den ÖPNV die Staus in Hannover um 1% reduziert, führt dies jährlich zu einem gesellschaftlichen Nutzen im Gegenwert von knapp 700.000 €. Eine Investition von ca. 20 Millionen € in den ÖPNV ist unter diesen Bedingungen vertretbar – innerhalb von 30 Jahren hat sie einen gesellschaftlichen Nutzen erbracht, der größer ist als ihre Kosten. Dass es dieses gesellschaftliche Nutzen gibt, heißt natürlich nicht automatisch, dass der Staat auch das nötige Geld bereitstellt. So lange man sich, mit der LINKEN als Oppositionspartei, bei der Diskussion nur auf der Ebene der politischen Forderungen bewegt, ist dies jedoch kein Problem – da DIE LINKE in der Bundespolitik die Forderung nach mehr Geld für den ÖPNV mit der Forderung nach höheren Steuern für Reiche verbinden kann.
Ansätze zum Ausbau des S-Bahn-Netzes in Hannover
Einer der ersten Schritte für einen Antrag zum Ausbau des S-Bahn-Netzes in Hannover ist es, zu ermitteln, ob es auf den bestehenden Schienentrassen noch Kapazitäten gibt. Falls noch Kapazitäten frei sind, dann könnte man, sofern es keine Probleme mit der Anschaffung von zusätzlichen Zügen und der Ausbildung der nötigen LokführerInnen gibt, zum nächsten oder übernächsten Fahrplanwechsel eine Taktverdichtung für die S-Bahn zur Rush Hour vornehmen. Die Güterzüge können ja auch mittags und am frühen Abend fahren – die Pendler sollten Morgens und am späten Nachmittag Priorität haben. Es gibt zwar schon Verdichtungszüge (im Südwesten von Hannover die S21 und S51), aber mir kommen trotzdem Beschwerden von Pendler über überfüllte Züge zu Ohren.
Wo also die Daten zur aktuellen Auslastung des Schienennetzes der Deutschen Bahn herbekommen? Es gibt eine Karte von DB Netz, aber dort sind die Daten zur Auslastung nicht ersichtlich. Es gibt auch allgemein eine vom Bundesumweltministerium 2010 in Auftrag gegebene Studie Schienennetz 2025 / 2030, die das Problem der fehlenden Kapazitäten für den Schienengüterverkehr sehr umfassend thematisiert; zumindest scheinen die Trassen in Hannover nicht zu den bundesweit relevanten Engpässen zu zählen. Schon 2015 schrieb Zeit online über chronisch überlastete Bahnstrecken.
Eine (nicht-interaktive) Karte mit der zu erwartenden Auslastung des Schienennetzes der Deutschen Bahn in der Region Hannover für das Jahr 2030 ist schließlich im Bundesverkehrswegeplan zu finden.
Sie ist dem Eintrag für die ICE-Trasse Hannover-Bielefeld beigefügt. Dem zu Folge wären auf der Strecke Weetzen – Hannover (Hbf) tatsächlich noch Kapazitätsreserven vorhanden. Bevor man aber dort eine Taktverdichtung fordern könnte, wäre zu klären, ob es auf den Gleisen des Hauptbahnhofs Hannover noch freie Kapazitäten gibt.
Zum Ausbau des S-Bahn-Netzes in Hannover gibt es einen Vorschlag eines gewissen ‚Tobias‘ auf einer Seite LiniePlus; auf dieser Seite kann jeder Vorschläge zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs hochladen, es gibt aber etwas wenig Aktivität. Tobias sieht jedenfalls ein Problem mit den begrenzten Kapazitäten des Hauptbahnhofs, und würde dies durch unterirdische Station auf Ebene -3 lösen. Dies ist, wie der Kommentar dazu anmerkt: „extrem teuer“. Für das Problem der begrenzten Kapazitäten des Hauptbahnhofs gibt es aber noch eine andere Lösung, die ich in dem früheren Blogeintrag unter dem Stichwort ‚Netzstruktur‘ thematisiert habe. Die meisten Pendler fahren ja nicht zum Hauptbahnhof, um dort auf Züge des Fernverkehrs umzusteigen, sondern arbeiten entweder direkt in der Innenstadt, oder steigen am Hauptbahnhof in das Stadtbahnnetz um. Wenn das S-Bahn-Netz eine Struktur hat, die es den Pendlern ermöglich, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes in das Stadtbahnnetz umzusteigen, ohne bis zum Hauptbahnhof zu fahren, dann kann man vielleicht einige direkte S-Bahn-Verbindungen zum Hauptbahnhof durch Tangentialverbindungen ersetzen.
Eine Investition, die bereits auf den Weg gebracht wurde, ist der Neubau einer Umsteigestation Waldhausen/Döhren; siehe diesen Artikel der HAZ: „Umsteigeanlagen gibt es in Hannover bereits an den S-Bahnhöfen Leinhausen, Nordstadt, Linden-Fischerhof, Karl-Wiechert-Allee und Bismarckstraße – dort allerdings nur zwischen S-Bahn und Bus. ‚Das Stadtbahnnetz ist [sic] verläuft strahlenförmig. Tangentialverbindungen werden hauptsächlich von Bussen bedient, aber auch die S-Bahn lässt sich nutzen‘, erklärt Elke van Zadel, Leiterin des Fachbereichs Verkehr der Region. Dort hat man errechnet, dass sich Fahrzeiten aus den südlichen Stadtteilen Hannovers wie der Südstadt, Waldhausen, Döhren oder Wülfel Richtung Deister durch die neue Station um eine gute Viertelstunde verkürzen. Auch innerstädtische Reisezeiten sowie jene zur Messe und nach Laatzen werden geringer, wenn S-Bahn-Nutzer zum Umstieg auf die Stadtbahn nicht mehr bis zum Hauptbahnhof fahren müssen.‘“ Eine solche Umsteigestation gibt es bereits in Linden-Fischerhof.
Dort geht das Konzept auf: „‘In Linden-Fischerhof haben wir täglich 5000 Umsteiger, die Tendenz ist stark steigend‘, sagt Geschwinder“, ebenfalls vom Fachbereich Verkehr bei der Region Hannover.
Bei dem bestehenden Streckennetz der Deutschen Bahn käme dafür insbesondere die bislang nur in Ausnahmefällen von der S-Bahn genutzt Strecke zwischen Bornum und Letter (über Ahlem) in Frage. Wenn man eine neue S-Bahn-Linie auf der Strecke zwischen Bornum (oder Linden-Fischerhof) und Letter (oder Leinhausen) etablieren würde, hätte man damit die Gelegenheit, für zwei bis vier neue Stationen. Zwei davon wären Umsteigestationen zur Stadtbahn – Am Soltekampe für die Linie 9 und Ahlem, Zum Schleusengrund, für die Linie 10. Die drei weiteren möglichen Stationen wären in Ahlem, am Kanal gegenüber der Wasserstadt Limmer, und Davestedter Straße in der Nähe des Lindener Hafens. Alternativ könnte man, wie schon länger geplant, eine Abzweigung der Stadtbahnlinie 9 durch die Davenstedter Str. führen, um Davenstedt endlich ans Stadtbahnnetz anzuschließen. Wenn man diese, was bislang noch nicht diskutiert wurde, östlich an Davenstedt vorbei, durch Kleingartenanlagen und entlang der Carlo-Schmid-Alle bis zur Stadtbahnhaltestelle Erhartstraße führen würde, dann könnte man die Stadtbahnlinie 10 stattdessen von der Station Brunnenstraße aus weiter nach Norden führen, und zur Anbindung der Wasserstadt nutzen. Es kann nämlich eigentlich nicht angehen, dass man mit Davenstedt und der im Bau befindlichen Wasserstadt Limmer Stadtquartiere in Hannover hat, die nicht an das Stadtbahnnetz angeschlossen sind. Deswegen hat die BI Wasserstadt auch einen ähnlichen Vorschlag für eine neue S-Bahn-Linie vorgelegt (direkt zur Karte).
Eine vollständige Ringstrecke, wie es sie in Metropolen wie u.a. in Berlin gibt, wäre natürlich ideal, um den Hauptbahnhof zu entlasten. Diese Ringstrecke muss nicht unbedingt eine tatsächliche Ringlinie sein. London hat z.B. seit Dezember 2009 keine echte Ringlinie mehr, wie dieser Youtuber erläutert: „While a circular route offers some advantages in terms of connectivity, it can be a bit of a headache, operationally.” Mit dem bestehenden Streckennetz der Deutschen Bahn in Hannover ist eine vollständige Ringstrecke, soweit ich das bislang überblicke, jedoch nicht zu realisieren. Man müsste neue Schienentrassen bauen; da wäre der Bau einer unterirdischen S-Bahn-Station im Hauptbahnhof wahrscheinlich sogar preisgünstiger.
Ausbau des Stadtbahnnetzes: Neue U-Bahn-Tunnel dürfen kein Tabu sein
Wenn das Potential des bestehenden Schienennetzes der DB für die S-Bahn ausgeschöpft ist (und man darauf warten muss, dass Aus- oder Neubaumaßnahmen mit dem Bundesverkehrswegeplan beschlossen werden) besteht die andere Möglichkeit, den Hauptbahnhof vom Pendlerverkehr zu entlasten, in einem Ausbau des Stadtbahnnetzes. Neben der bereits erläuterten Möglichkeit, Umsteigepunkte von S-Bahn auf die Stadtbahn zu schaffen, besteht eine weitere Möglichkeit darin, die Durchschnittsgeschwindigkeit der Stadtbahnen zu erhöhen. Dies ist der Sinn kleinerer Ausbaumaßnahmen beim Straßenbahnnetz. Der Nahverkehrsplan 2015 für die Region Hannover unterscheidet unter Punkt Ausbaustandard für Stadtbahnstrecken (2.2.3, S.235) vier „Bahnkörperarten“. Die ersten beiden „straßenbündiger Bahnkörper“ und „besonderer Bahnkörper im Straßenraum“ sind suboptimal, weil sich die Stadtbahn dabei den Verkehrsraum mit dem Autoverkehr teil, und nur mit 50km/h bzw. 60 km/h fahren kann. Bei den andere beiden Bahnkörperarten, „unabhängiger Bahnkörper an der Oberfläche“ und „unabhängiger Bahnkörper im Tunnel“, kann die Stadtbahn hingegen mit 70 km/h fahren, und wird nicht durch den Autoverkehr verlangsamt. Wenn man also eine bestehende Stadtbahntrasse von Ausbaustandard 1 („straßenbündiger Bahnkörper“) oder von Ausbaustandard 2 („besonderer Bahnkörper im Straßenraum“) mindestens zu Ausbaustandard 3 („unabhängiger Bahnkörper“) ausbauen kann, dann erhöht sich die Maximalgeschwindigkeit um 10 bzw. 20 km/h, ohne dass man dafür einen U-Bahn-Tunnel bräuchte. Allerdings lassen sich solche unabhängigen Bahnkörper offenbar, aufgrund fehlenden Platzes, nicht überall entlang der bestehenden Trassen realisieren – und dann sollte man doch über Ausbaustandard 4 („unabhängiger Bahnkörper im Tunnel“) nachdenken.
Ein ähnliches Problem gibt es bei dem Bau von Hochbahnsteigen. Die Entscheidung für die Aufrüstung aller Stadtbahnstationen mit Hochbahnsteigen (und gegen eine Niederflurbahn) ist gefallen. Dies heißt auch, dass man im gesamten Netz behindertengerechte Hochbahnsteige benötigt. Dies soll bis 2030 abgeschlossen werden. Der aktuelle Stand des barrierefreien Ausbaus der Stadtbahn ist im Entwurf des Nahverkehrsplans 2020 auf S. 52 zu finden. Allerdings brauchen Hochbahnsteige mit barrierefreier Rampe unvermeidlich mehr Platz als die Haltepunkte einer Niederflurbahn, Platz, den man dem Autoverkehr wegnehmen muss (wobei es auch einen Fall geben soll, in dem der nötige Platz dem Fahrradverkehr weggenommen wurde). Es gibt Menschen, die damit ein Problem sehen – dafür wäre dann eine U-Bahn, mit unterirdischen Stationen, eine mögliche, aber auch sehr teure Lösung.
Es gibt noch ein weiteres wichtiges Argument für den Ausbau des U-Bahn-Netzes (also des unterirdischen Teils des Stadtbahnnetzes). Die Kapazität des bestehenden Netzes in der Innenstadt ist begrenzt. Der Entwurf des Nahverkehrsplans 2020 vom März des Jahres beschreibt dies unter Punkt 4.1.1.5 (S.73), ÖPNV-Kapazitätsreserven: „Wie viel ‚Luft nach oben‘ steckt noch im Stadtbahnsystem?“ Das Problem zeigt sich konkret am C-Tunnel: „Die derzeit am stärksten belastete Tunnelstrecke ist der C-Tunnel mit 24 Fahrten pro Stunde und Richtung (vier Linien, von denen bereits drei in der Hauptverkehrszeit (HVZ) mit 3-Wagen-Zügen verkehren). Die Linie 11 verkehrt mit 2-Wagen-Zügen und erfordert aufgrund der Nachfrage keinen dritten Wagen. Die Veranstaltungslinie 16 verkehrt in der Regel nicht während der Hauptverkehrszeiten. Somit besteht eine Restkapazität von einer Linie mit sechs Fahrten pro Stunde und Richtung mit 3-Wagen-Zügen.“
Falls also die Nachfrage auf den betroffenen Linien steigt, könnte dies nicht mehr bedient werden: „Perspektivisch kommen die Linien 4 und 6 an ihre Kapazitätsgrenze und erfordern bei einer Zunahme der Nachfrage eine Angebotsverdichtung. Damit konkurrieren beide Linien um die oben genannte verfügbare Restkapazität im C-Tunnel. Es ist eine Lösung zu entwickeln, wie ein Teil der Nachfrage auf eine andere Strecke verlagert werden kann.“ Aber wieso einen „Teil der Nachfrage auf eine andere Strecke“ verlagern? Könnte man nicht statt dessen 1) den D-Tunnel fertig stellen, zumindest zwischen Steintor und Hauptbahnhof, und 2) einen Verbindungstunnel von C-Tunnel auf D-Tunnel bauen, zwischen Steintor und Königsworther Platz / Christuskirche, so dass die Linien 4, 5 und/oder 6 von Westen durch den D-Tunnel bis zum Hauptbahnhof fahren können? Dies würde nicht nur das Problem des absehbaren Engpasses lösen, sondern auch langfristige Kapazitätsreserven im Stadtbahnnetz schaffen.
Wenn die Bevölkerungszahl der Region Hannover weiterwächst, wovon auszugehen ist, wird man in absehbarer Zeit auch den unterirdischen Teil des Stadtbahnnetzes ausbauen müssen. Aber man sollte nicht so lange warten. Die S-Bahn, und eine Stadtbahn mit unabhängigem Bahnkörper (unterirdisch oder oberirdisch) ermöglichen einen öffentlichen Nahverkehr, dessen Verbindungen schneller und bequemer sein können, als der Autoverkehr zur Rush Hour. Damit ist es möglich, Autofahrer zum Umstieg auf die Bahn zu überzeugen, und den Stau auf den Schnellwegen zu reduzieren. Der Entwurf des Nahverkehrsplans bezieht sich wahrscheinlich auf etwas ähnliches, wenn dort eine „Erhöhung des ÖPNV-Nachfrageanteils an der Gesamtnachfrage etwa
durch Maßnahmen zum Klimaschutz oder zur Luftreinhaltung“ erwogen wird (S.73). Natürlich könnte man den Autoverkehr in der Stadt Hannover auch drastisch reduzieren, indem man eine (hohe) City-Maut für alle Fahrzeuge ohne Elektro- oder Wasserstoffantrieb durchsetzt. Dies lässt sich durchaus, im Sinne von „Klimaschutz“ und „Luftreinhaltung“, fordern, dürfte aber bei vielen Menschen auf wenig Verständnis stoßen. Ich selbst würde es stattdessen vorziehen den öffentlichen Nahverkehr so gut auszubauen, dass die Pendler freiwillig auf Bus und Bahn umsteigen.
Es geht mir mit diesem Blogeintrag noch nicht um konkrete Vorschläge zum Ausbau des S-Bahn- oder Stadtbahnnetzes. Vielmehr will ich einen Konsens erzielen, dass eine deutliche Verlagerung des Verkehrs in der Region vom Auto auf die Schiene das Ziel der regionalen Verkehrsplanung sein sollte.