Baupolitik und Enteignung
Eines der Themen, mit denen man sich in der Kommunalpolitik im jeweiligen Bauausschuss beschäftigen kann, sind jene architektonischen Schandflecken, die es in vielen Gemeinden und Städten gibt. In Gehrden ist dies das Haus am Steinweg 25, das inzwischen seinen eigenen Wikipedia-Artikel hat. Nachdem irgendwann der Eindruck bei mir entstanden war, dass die Eigentümerin das Haus verfallen lassen würde, wenn nicht ein von ihr gewünschter Bebauungsplan beschlossen wird, hielte ich deutlichere Maßnahme für angebracht, und habe im Rat der Stadt Gehrden den Antrag gestellt, eine Enteignung des Grundstückes zu prüfen. Hier ist meine Rede zur Begründung des Antrages.
Grundsätzlich muss das möglich sein. §14 (3) des Grundgesetzes lautet bekanntlich: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.“ Dieser Artikel muss grundsätzlich auch anwendbar sein, wenn eine Kommune ein Gebäude erwerben möchte, um z.B. die Fläche zur Erweiterung des Marktplatzes zu nutzen oder es zu sanieren. Mein Antrag, das rechtlich prüfen zu lassen, scheiterte jedoch im Rat der Stadt Gehrden an der Ablehnung durch alle (!) anderen Parteien.
Ein anderes Beispiel ist das leerstehende, in den 1960ern im Stil des sog. Brutalismus erbaute ‚Maritim Grand Hotel Hannover‘ gegenüber dem Neuen Rathaus, bei dessen Sanierung aktuell (August 2020) ein Baustopp gilt, weil Asbest gefunden wurde (Artikel der HAZ). Vielleicht bezieht sich der Ratsherr der LINKEN in der Stadt Hannover auf dieses Hotel, wenn er auch Enteignungen in Betracht zieht, um während der Corona-Pandemie benötigte zusätzliche Unterkünfte zu schaffen. Auf jeden Fall ist es ein Anliegen, das sich in der Kommunalpolitik vertreten lässt.
Auch im Kapitalismus wird enteignet
Ich dachte mir, ich betone diesen Punkt einmal, weil es für manche Menschen überraschend sein könnte, dass auch im Kapitalismus regelmäßig Enteignungen stattfinden. Im Bereich kommunaler Baupolitik kommt dabei als gesetzliche Grundlage Teil 5 des Baugesetzbuches, §§85-122 (‚Enteignung‘ im nichtamtlichen Inhaltsverzeichnis) in Frage. Ob das jemals angewandt wurde, ist mir nicht bekannt. Mein Antrag, dies rechtlich zu prüfen, wurde, wie gesagt, abgelehnt.
Diesen Gegensatz zwischen öffentlichem Interesse und privaten Eigentumsrecht hat man natürlich auch bei anderen öffentlichen Investitionen. Auf der Grundlage von §14, (3) GG finden deswegen regelmäßig Enteignungen statt, z.B. beim Bau von Autobahnen und Bundesstraßen, wo dies auf der Grundlage von §19 des Bundesfernstraßengesetzes geschieht
Bei Schienenprojekten ist eine Enteignung auf der Grundlage von §22 Allgemeines Eisenbahngesetz möglich. Da ist mir jedoch auf Anhieb kein Beispiel aus Deutschland für bekannt; aus Österreich gibt es jedoch ein gutes Beispiel, nämlich die Erweiterung der Wiener U-Bahn (Video auf Youtube). Dem Eigentümer eines Grundstückes gehört der Boden unter dem Gebäude theoretisch bis zum Erdmittelpunkt, das heißt, wenn darunter ein U-Bahn-Tunnel gebaut werden soll, muss das im Grundbuch eingetragen werden. Falls sich der Eigentümer dazu nicht für eine bestimmte Geldsumme bereit erklärt, dann wird dieser Eintrag im Grundbuch auch gegen seinen Willen, gegen eine geringere Entschädigung, vorgenommen. „Die U-Bahn wird im öffentlichen Interesse, für die Wienerinnen und Wiener gebaut; dass man sagt, na gut, der eine Eigentümer möchte das nicht, deswegen macht die Trasse da jetzt einen Haken rund herum, das ist technisch nicht möglich, das könnte man auch den anderen Menschen nicht erklären. Dann ist das so, das einfach die Behörde, bzw. das Gericht das entscheiden, wie es da weitergehend.“ Zumindest in Österreich wird dann konsequent enteignet, wenn der Eigentümer nicht kooperiert – es sei denn natürlich, das Gebäude gehört zur US-amerikanischen Botschaft: vgl. dieses Video. Da wäre eine solche Enteignung aufgrund der diplomatischen Immunität nicht möglich gewesen, wobei sich die Wiener U-Bahn-Linien und die US-Botschaft dann doch noch geeignet haben (worauf die Beschreibung des Videos hinweist).
Nun wird Wien zwar durch die Sozialdemokraten regiert und eine sehr ausgeprägte sozialdemokratische Geschichte (das ‚rote Wien‘ von 1919-1934), was sicherlich auch ein Grund dafür ist, dass Wien eine sehr gute Wohnungsbaupolitik und Stadtplanung hat, aber solche gezielten Enteignungen für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur sind kein Sozialismus. Enteignung ist nicht das gleiche wie Vergesellschaftung. Unter dem Stichwort ‚Vergesellschaftung‘ gibt es im Grundgesetz einen eigenen Artikel, §15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Die Frage der Enteignung stellt sich in Fällen, in denen es ein Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse (oder: Allgemeinwohl) und dem Privateigentum bestimmter Personen gibt. Eine Enteignung liegt vor, wenn man z.B. ein bestimmtes Wohnhaus abreißen müsste, um dort eine U-Bahn-Station zu bauen. Eine Vergesellschaftung liegt hingegen vor, wenn man z.B. in einem bestimmten Bundesland (wie Berlin) alle Immobilienkonzerne, die die Rechtform der Aktiengesellschaft haben (wie die Deutsche Wohnen), enteignet. Enteignungen sind auch im Kapitalismus für die Stadtplanung unumgänglich. Vergesellschaftungen stellen hingegen, zumindest in bestimmten Bereichen wie der Wohnungswirtschaft, den unbeschränkten Kapitalismus als solches in Frage.
In einem meiner Blogeinträge zum Thema ‚Steinweg 25‘ hatte ich das bereits thematisiert. Dass gezielte Enteignungen im Rahmen der Verkehrsplanung und Stadtentwicklung den Kapitalismus nicht in Frage stellen, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass es dieses Recht zu enteignen, referiert unter dem Stichwort ‚eminent domain‘, in der Verfassung der USA gibt. In der Stadtplanung ist damit eine Menge falsch gemacht worden. Der Youtuber ‚City Beautiful’ (in Englisch) verwendet Bostons West End als Beispiel dafür: „The irony here is that if a place like the West End had been allowed to survive it probably would have been totally gentrified by now and filled with wealthy residents that BRA (Boston Redevelopment Authority) was trying to attract in the first place. “
Der entsprechende Rechtsbegriff in Großbritannien ist „compulsory purchase order“ (Großbritannien), wie anhand der Debatte um die Erweiterung des Flughafen Heathrow zu erkennen ist (Bericht der Financial Times (Englisch). Auch zum Flughafen Heathrow hat der Youtuber ‘City Beautiful’ ein Video gemacht: Das Problem mit Flughäfen ist natürlich auch der Lärm, aber vor allem der Umweltschutz. Es gibt zwar einzelne Experimente mit solarbetrieben Flugzeugen, aber Passierflugzeuge müssen auf absehbare Zeit mit Kerosin betrieben werde, weil nur solche Treibstoffe die nötige Energiedichte haben. Der CO2-Austoss des Flugverkehrs, wenn denn die Staaten ihre gesetzten Klimaziele erreichen wollen, ein grundsätzliches Argument gegen den Ausbau jeden Flughafens. Das hat, diesem Video zu Folge, auch Anfang 2020 auch der Court of Appeal in England und Wales so gesehen.
Allgemeinwohl und Privatinteresse
Auf das Thema ‚Umweltschutz‘ gehe ich weiter unten noch einmal ein, aber das Thema ‚Lärm‘ erfordert bereits eine ausführlichere Diskussion. Dafür, dass gegen neue Schienenprojekte wegen dem befürchteten Lärm protestiert wird, gibt es sicherlich Dutzende Beispiele in Deutschland.
Ein Eisenbahnprojekt, für das eine Enteignung in der Diskussion steht, ist die Erweiterung der Strecke Hamburg-Lübeck auf 4 Trassen für die Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Querung (Video vom NDR. Das vorrangig thematisierte Problem ist aber nicht die Enteignung als solche, sondern ein anderes: Schienenprojekte werden abgelehnt, weil die Anwohner zusätzlichen Lärm befürchten. „Gegen die S4-Bauarbeiten ist im Osten der Stadt [Hamburg] eigentlich niemand. Doch viele Anwohner haben den Eindruck, ihnen soll hier eine Verdreifachung der Güterzüge untergejubelt werden, notfalls, so die Angst, mit der juristischen Brechstange der Enteignung.“ Aber wie sollen die Güter den sonst vom Hamburger Häfen aus transportiert werden? Mit dem LKW? Wie lang dürfte dann wohl der Stau am Elbtunnel und den Elbbrücken sein? Abgesehen davon natürlich, dass LKWs auch Lärm verursachen, und man für einen Ausbau der Autobahnen auch enteignen müsste. Vielleicht wird der Lärm durch Autobahnen ja weniger schlimm wahrgenommen, weil er kontinuierlich erfolgt, und nicht im Takt von einigen Minuten, aber bei dem Transport auf der Schiene ist der Platzbedarf geringer. Ein 740-Meter-Güterzug ersetzt 52 LKW.
Weitere Beispiele sind unter anderem die Diskussion um den Ausbau der Bahnstrecke Hanau-Fulda (Video des Hessischen Rundfunks ), bei der sich die Bahn im Dialogforum für eine bestimmte Variante entschieden hat, und der Aus- oder Neubau einer ICE-Trasse zwischen Hamburg unter Hannover (Video eines Youtubers), worüber die Politik sicherlich seit 20 Jahren diskutiert; beim zweiteren passiert nur nichts, weil die verschiedenen Trassenführungen jeweils von Bürgerinitiativen in den betroffenen Ortschaften abgelehnt werden.
Einer der wichtigsten dieser Kontroversen dürfte jene um den Brenner-Nordzulauf im Landkreis Rosenheim in Bayern sein. Den Zusammenhang mit dem Brenner-Basistunnel in Tirol erklärt dieses
Video des Bayrischen Rundfunks ganz gut. „Die Leute haben Angst. Angst vor allem vor zusätzlichen Zuglärm.“ Außerdem dauern die Planungen bei solchen Schienentrassen sehr lang. Bis zur Eröffnung des Brenner-Basistunnel wäre sie gar nicht fertig. Dass sich bei den Planungen für den Brenner-Nordzulauf in Bayern viel zu wenig bewegt, stellt auch dieses Video des Österreichischen Rundfunks heraus. Der letzte Stand (vom Juli 2020) ist in einem anderen Video des Österreichischen Rundfunks zusammengefasst. Der Kreistag Rosenheim hat alle 5 Streckenvorschläge für die Eisenbahn-Zubringung des Brenner-Basistunnels abgelehnt. Na da freuen sich sicherlich die Anlieger der Autobahn in Tirol, wenn der transalpine Güterverkehr weiter mit dem LKW erfolgt. Ist es denn von den wohlhabenden Einwohnern südlich von München zu viel verlangt, zu akzeptieren, dass sie entlang eines Eisenbahnkorridors wohnen, den Europa braucht, wenn wir die Verkehrswende schaffen wollen?
Bei diesen Kontroversen um den Bau von Bahnstrecken handelt es sich um Konflikte zwischen dem öffentlichen Interesse (an besseren Schienenverbindungen) und den jeweiligen Privatinteressen an der Beibehaltung des Eigentums bzw. dem Schutz vor Lärm. Der bereits zitierte §14 (3) des Grundgesetzes begründet Enteignungen mit dem Wohle der Allgemeinheit. Sie sind nur zu diesem Zwecke zulässig. Anhand dieser Beispiele ist wird klar, welches politischen Problem sich hinter solchen Kontroversen verbergen: Ist es zulässig, bestimmten Individuen Nachteile zuzumuten (z.B. mehr Lärm, oder eine Enteignung von Teilen ihres Grundstücks) um dadurch Vorteile für die gesamte Gesellschaft zu erhalten (z.B. weniger CO2-Ausstoss durch eine Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene)?
‚Öffentliches Interesse‘ und ‚Allgemeinwohl‘ sind Begriffe, unter den dieser Zusammenhang auch in der politischen Philosophie diskutiert wird. In der Politikwissenschaft ist dies als Problem kollektiven Handels bekannt. Hier ist eine der berühmtesten Formulierungen des Problems, nämlich die von Rousseau:
In der Tat kann jedes Individuum als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemeinwillen, den er als Bürger hat, zuwiderläuft oder sich von diesem unterscheidet. Sein Sonderinteresse kann ihm anderes sagen als das Gemeininteresse; sein selbstständiges und natürlicherweise unabhängiges Dasein kann ihn das, was er der gemeinsamen Sache schuldig ist, als eine unnütze Abgabe betrachten lassen, deren Einbuße den anderen weniger schadet, als ihn ihre Leistung belastet, und er könnte gar seine Recht als Staatsbürger in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten eines Untertanen erfüllen zu wollen, da er die moralische Person, die der Staat darstellt, als Gedankending betrachtet, weil sie kein Mensch ist; eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde. (Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Reclam, 2011, S. 41)
Das Sonderinteresse an dem Schutz vor Lärm ist auf individueller Ebene durchaus verständlich. Aber wenn man diese Privatinteressen immer respektieren wollte, so würde das dazu führen, dass man im fast gar keine neue Verkehrsinfrastruktur bauen könnte – schließlich verursachen sowohl Straßen, als auch Bahnstrecken als auch Flughafenzusätzlichen Lärm.
Der Gegensatz zwischen öffentlichem Interesse (oder: Allgemeinwohl) und Privatinteresse bezieht sich aber nicht nur auf diese Beispiele. Auch das Downs-Thompson-Paradox (siehe den vorhergehenden Artikel) ist eine Variante davon. Ein Verhalten, das individuell rational ist (z.B. mit dem Auto den direkten Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte zu nehmen) kann kollektiv irrational sein (wenn dies in Großstädten die meisten Pendler machen, sind die Straßen überlastet und es kommt zu Stau). Gerade deswegen sollte man in den Großstädten viel mehr in Schienenprojekte investieren – Investitionen in den Straßenverkehr helfen dauerhaft nicht, den Verkehrskollaps zu verhindern.
Es würde wenig Sinn ergeben, bei jedem neuen Schienenprojekt von vorne über die Fragen der möglichen Enteignung und des Lärmschutzes zu debattieren. Die Debatte darüber müsste einmal allgemein geführt werden – aber dann gesamtgesellschaftlich. Dafür ist das öffentliche Interesse an dem Thema aber wohl doch zu gering. Es sollte aber immerhin möglich sein, zumindest im politischen Spektrum der politischen Interessierten die nötige Aufmerksamkeit für die Problematik zu schaffen – also z.B. bei der Diskussion um das Programm für die Kommunalwahl 2021 in Niedersachen. Ich meine, bislang gibt es im Programm meiner Partei keine ausdrückliche Aussage dazu.
Glücklicherweise bin ich Mitglied einer Partei, welche sich selbst als sozialistisch bezeichnet, daher dürfte die Diskussion zu dieser Frage vergleichsweise schnell abgeschlossen sein. Wenn man perspektivisch die Vergesellschaftung von „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ anstrebt, um diese in „in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaf“ zu überführen (vgl. §15, GG), dann kann die gezielte Enteignung von Grund und Boden in bestimmten Fällen, um Investitionen ins öffentliche Schienennetz (sowohl für Nah-, als auch für Fernverkehr) umsetzen zu können, kein Problem sein. Politisch ist dabei zum einen der Vorrang des Schienenverkehrs vor dem Bau von Straßen und Flughafen zu klären (was ich schon begründet habe), zum anderen, wie weit die Anwohner von jenen Schienenstrecken, die neu zu bauen oder zu erweitern sind, für die Nutzung ihrer Grundstücke und den zusätzlichen Lärm eine Entschädigung erhalten.
Der Paragraph des allgemeinen Eisenbahngesetz, welcher für Bau und Erweiterung von Schienentrassen die Enteignung ermöglicht, müsste konsequent angewendet und ggf. verschärft werden. Es spricht aber nichts dagegen, ggf. die Entschädigung etwas großzügiger ausfallen zu lassen, um die Kontroversen um den Bau von neuen Schienenstrecken zu entschärfen; dies ließe sich ja über die Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder eine stärkere Progression bei der Einkommenssteuer gegenfinanzieren. Ähnlich beim Umgang mit Bahnlärm. In reinen Wohngebieten sind, diesem Artikel zur Rechtslage zu Folge, tagsüber 50 Dezibel {sog. db(A)} zulässig und nachts 35 Dezibel; in Industriegebieten hingegen 65 Dezibel, in Gewerbegebieten 60 Dezibel (vlg. diesen Artikel). Wenn der Ausbau oder der Neubau einer Schienenstrecke dazu führt, dass nachts die 35 Dezibel in einem Wohngebiet überschritten werden, auch wenn alle Maßnahmen zum Lärmschutz ergriffen werden, dann sollte es gesetzlich möglich sein, die betroffen Teile des Wohngebietes im Bebauungsplan in ein Gewerbegebiet umzuwandeln, und die Eigentümer entsprechend für den Wertverlust zu entschädigen – auch gegen den Willen dieser Eigentümer und der jeweiligen Kommune. Das ist durchaus eine drastische Forderung, aber ansonsten sehe ich nicht, wie die Verkehrswende zu schaffen ist. Es kann nicht sein, dass der Ausbau des Schienennetzes durch die Privatinteressen der betroffenen Eigentümer weiterhin so stark verlangsamt wird.
Allgemeinwohl und Umweltschutz (Beispiel: Fehmarnbelt-Tunnel)
Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch kurz auf die Frage des Umweltschutzes eingegangen werden. Die zu erwartende Lärmbelästigung ist kein Argument gegen Neu- oder Ausbau von Schienenstrecken, aber was ist mit einer zu erwartenden Umweltbelastung? Wie verhält sich Umweltschutz zum Allgemeinwohl? Was ist das Wohl der Allgemeinheit oder das öffentliche Interesse genau? Man könnte sicherlich sagen, dass es im Interesse der EinwohnerInnen Großbritannien ist, den Flughafen Heathrow auszubauen, weil dies bessere Flugverbindungen in die ganze Welt ermöglicht. Aber man könnte auch sagen, dass es nicht im Interesse der Allgemeinheit ist, überhaupt irgendeinen Flughafen auszubauen, so lange das Problem des CO2-Ausstosses durch Flugzeuge nicht gelöst ist, weil eine weitere Verschärfung des Klimawandels natürlich nicht im Interesse der Allgemeinheit ist, weder in Großbritannien, noch so wo auf diesem Planeten. Wenn man aber nicht die Flughäfen ausbauen will, dann muss man das Schienennetz für Fernreisende ausbauen.
Diese Priorisierung der Schiene gegenüber dem Flugverkehr sollte zwar innerhalb des linken und ökologisch orientierten Milieus unkontrovers sein sollte, ist es aber letztlich nicht. Dies zeigt sich an der Kontroverse um den Fehmarnbelt-Tunnel, gegen den verschiedene Umweltverbände (und der Betreiber der bestehenden Fährverbindung) geklagt hatten. Diese Klagen wurden Anfang November durch das Bundesverwaltungsgericht abgewiesen wurden (Zusammenschnitt der Berichterstattung auf Youtube). Der Fehmarnbelt-Tunnel ist zwar ein kombinierter Auto- und Bahntunnel, aber er ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufbau eines europäischen Schienennetzes für den Fernverkehr und Güterverkehr interessant.
Ich erachtete diese Entscheidung des Gerichts für richtig. Ich denke nämlich nicht, dass der Naturschutz überall Priorität haben kann. Einerseits sollten wir in Deutschland mehr Gebiete haben, in denen die Natur weniger gestört wird; es sollten nach Möglichkeit mehr zusammenhänge Naturschutzgebiete ausgewiesen werden, und vielleicht gibt es auch, bestimmte Gebiete landwirtschaftlich weniger intensiv zu bewirtschaften. Andererseits brauchen wir in den Ballungsräumen mehr Wohnraum – und zwischen den Ballungsräumen müssen die Schienenstrecken in den Verkehrskorridoren ausgebaut werden. Diese gesellschaftliche Fragestellung fällt nicht unter den Gegenseits von Allgemeinwohl und Privatinteresse, im Gegenteil, es geht darum, das Allgemeinwohl näher zu bestimmen. Die Allgemeinheit hat sowohl ein Interesse an einem gut ausgebauten Schienennetz, als auch daran, die Natur des Planeten für kommende Generationen zu bewahren. Wie sind diese beiden Punkte gegeneinander abzuwägen?
So wird die Debatte aber nicht geführt. Der Kommentar der taz bringt die ökologischen Doppelstandards des grün-bürgerlichen Milieus auf den Punkt: „Dafür dürfte das Ferienidyll Fehmarn künftig von einer Infrastrukturwand zerschnitten werden. Und: Wer will schon auf der Riesenbaustelle urlauben?“ – Hier wird nicht mit dem Allgemeinwohl argumentiert, sondern mit dem Privatinteresse derjenigen, die auf der Insel Fehmarn ein Ferienhaus haben oder es sich leisten können, dort eines zu mieten. Aber was ist mit dem Privatinteresse derjenigen, die auf einer der dänischen Inseln Urlaub machen wollen, und deren Fahrtzeit durch den Fehmarnbelt-Tunnel kürzer wird? Oder den Dänen, die nach Hamburg oder weiter südlich reisen wollen? Will man denen sagen, dass sie doch das Flugzeug nehmen sollen? Wie lässt sich das mit dem Anspruch an die Verkehrswende vereinbaren?
Wenn es nicht gelingt, den Klimawandel zumindest teilweise zu verhindern, dann kann man in einigen Jahrzehnten gar nicht mehr an der Küste Urlaub machen, oder nur hinter extrem hohen Deichen. Die Verkehrswende ist zwar nur ein kleinerer, aber doch ein wichtiger Aspekt, um den Klimawandel zu verhindern. Glaubt der Kommentator den, dass man in Dänemark eine Mehrheit für eine ökologische Wende gewinnt, wenn man den dänischen Arbeitern und der unteren Mittelschicht sagen würde, dass sie dafür auf ihren Urlaub in Deutschland oder weiter südlich verzichten müssen, weil dieser dank CO2-Steuer auf Kerosin (welche dringend eingeführt werden sollte) zu teuer ist und die Zugfahrt zu lange dauert? Ohne Großprojekte für ein europäisches Hochgeschwindigkeitsnetz geht es nicht. (Mehr Güterverkehr auf die Schiene kommt noch dazu.)
Es gibt nur drei Möglichkeiten (oder vier, wenn man Fernreisen mit dem Auto dazu nimmt): Entweder die Leute fliegen die mittleren Distanzen in Europa mit Flugzeug, oder sie fahren mit dem Zug, oder sie müssen, so weit wie möglich, auf Reisen verzichten. Wenn man weder einen Ausbau der Flughafen, noch einen Ausbau des Schienennetzes (noch den Ausbau der Autobahnen) will, dann müsste man als politische Partei von den Wählerinnen und Wählern mit geringeren Einkommen verlangen, dass sie weitgehend auf Reisen über mittlere oder längere Distanzen verzichten – und das ist keine sinnvolle politische Position, wenn man von ihnen gewählt werden will.