Ein Essay zur Programmdebatte in der LINKEN
I. Kurze Nachlese der Strategiedebatte
II. Bürgerliche Gesellschaft und Kapitalismus
III. Soziale Grundrechte im Kapitalismus
IV. Zur DDR-Debatte in der LINKEN
V. Die kontraktualistische Widerlegung der Marxschen Ausbeutungstheorie
VI. James M. Buchanan als exemplarischer Vertreter des neoliberalen Laissez-faire
VII. Zur Kritik des abstrakten Eigeninteresses
VIII.Neoliberalismus und Coronakrise
IX. Linke Programmatik ohne Marx
Kurze Nachlese der Strategiedebatte
Im Frühjahr dieses Jahres fand in der LINKEN eine umfassende Strategiedebatte statt. Ich hatte selbst einen Beitrag dazu verfasst: »DIE LINKE als bürgerliche Partei«. Mit diesem konnte ich aber nicht unbedingt zufrieden sein; die bei einer solchen Debatte unvermeidliche Begrenzung der Textlänge des Beitrages und die harte Deadline führte dazu, dass ich in meinem Debattenbeitrag nicht in die Tiefe gehen konnte, und in bestimmten Punkten auch unnötig arrogant wirke. Ich hatte also von Anfang an beabsichtigt, eine längere Fassung dieses Debattenbeitrags zu schreibe, die hiermit vorliegt. In meinen Betrag zur Strategiedebatte hatte ich nicht den Platz, die Sozialismus-Debatte in der LINKEN aufzurollen. Die Forderungen, dass der Staat soziale Grundrechte wie Bildung und Wohnen für alle Menschen sicherstellen soll, sich um eine gute öffentliche Infrastruktur wie Eisenbahnen und öffentlichen Nahverkehr zu kümmern habe und dies über progressiver Besteuerung der hohen Einkommen und Vermögen zu finanzieren ist, gilt oft schon als Sozialismus. In der LINKEN, zumindest in den alten Bundesländern, trifft man hingegen oft die Meinung an, dass der Sozialismus erst dann erreicht sein wird, wenn der letzte Kapitalist enteignet worden ist. Dieser Essay soll insbesondere den Versuch machen, diese zwei verschiedenen Formen des Verständnisses von ‚Sozialismus‘ von einander abzugrenzen.
Allerdings kam dann nach Begin des Schreibens die Coronakrise auf, und aus offensichtlichen Gründen, braucht dieses Essay einen eigenen Abschnitt dazu. Ansonsten besteht dieser Essay zum kleineren Teil aus einer Sichtung der verschiedene Beiträge aus der Strategiedebatte, den dazu, veröffentlichten Artikeln und anderen Positionen, und zum größeren Teil aus einem philosophischen Textkommentar zu klassischen Werken von Marx und Engels und denen von vier Theoretikern des modernen Kontraktualismus (Nozick, Rawls, Buchanan, Gauthier). Für einen politischen Essay ist dieser Textkommentar zwar sehr ausführlich, aber methodisch ist dies angemessen. Schließlich kann man einem Theoretiker wie Marx nicht einfach eine bestimmte Position zuschreiben, sondern muss diese anhand von dessen Texten belegen. In Anbetracht der nach wie vor beliebten Marx-Lesekreise kann man Linken die Lektüre solcher Textkommentare durchaus zumuten – denn dann fällt der Aufwand für die Lektüre der Primärliteratur entsprechend geringer aus.
Nun muss die Strategiedebatte der LINKEN 2020 medientaktisch als Fehlschlag gelten. Verschiedene Aussagen auf der Veranstaltung haben für einigen Spott gesorgt. Einen Überblick dazu gibt das Video von extra 3. Der wahrscheinlich beste Kommentar ist jener der taz, Riexinger und die Folgen, der das Problem der LINKEN als das Fehlen einer politischen Vision benennt.
Die Beiläufigkeit, mit der Riexinger, selbst sicher kein Barrikadenbauer, sondern eher ein bräsiger Gewerkschaftssekretär, über diese rhetorische Figur linksradikaler Sekten hinweggeht, offenbart nämlich wirklich ein großes Problem der Linkspartei.
Das aber ist nicht eine tatsächliche Nähe zu politischer Gewalt. Dieser Vorwurf ist schlicht Blödsinn. Das wirkliche Problem der Linkspartei ist hingegen die große Distanz zu jeglicher Gestaltungsmacht und das Fehlen einer verbindenden politischen Vision. Die unmittelbare Abrufbarkeit jener Fantasie einer in ferner Zukunft liegenden gewaltsamen Auflösung gesellschaftlicher Konflikte ist deutliches Symptom heutiger Ohnmacht.
Anders gesagt: Wenn eine Genossin von in einem Nebensatz von einer Revolution phantasiert, bei der man „dat 1% der Reichen erschossen haben“ wird, und der Parteivorsitzende mit einer entsprechenden sarkastischen Bemerkung darauf hinweist, „wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein“, dann zeigt dies, dass die Vorstellung einer Revolution nach sowjetischen Vorbild sowohl bei den RednerInnen als auch im Publikum abrufbar ist – aber diese „einer in ferner Zukunft liegende gewaltsame Auflösung gesellschaftlicher Konflikte“ ermöglicht keine realisierbare parlamentarische Strategie. In der LINKEN gibt es, soweit bekannt, eben keine Extremisten. Die Rechtsextremen sind es, die Waffenlager anlegen, paramilitärische Übungen abhalten und sich auf eine gewaltsame Revolution am Tag X vorbereiten, Linksextremisten in diesem Sinne gibt es nicht mehr. Selbst die verbliebenen Mitglieder der RAF sind inzwischen in Altersrente und überfallen nur noch Supermärkte. In der LINKEN gibt es statt dessen nicht wenige Verbalradikale, die zwar gerne von Revolution schwafeln, aber nicht reflektieren, dass eine Partei, die in einer parlamentarischen Demokratie gewählt werden will, ihren WählerInnen kaum zumuten kann, mit politischen Ergebnissen bis zu einer ominösen Revolution zu warten.
Dabei hat DIE LINKE. nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal, dass sie sich in der Normalität der parlamentarischen Arbeit nicht bequem einrichtet und die bestehenden Missstände verwaltet, sondern nach dem Entwurf einer besseren Gesellschaft sucht. Aber es fehlt bislang eine verbindliche, langfristige politische Vision, welche das Ideal einer besseren Gesellschaft mit konkreten Ansätzen verbinden, wie diese bessere Gesellschaft zu erreichen ist. Bodo Ramelow hat ja in der Debatte aufgefordert, „mehr das Wofür wir sind zu buchstabieren, und nicht wogegen wir sind“. Die positive Bestimmung des Ideals einer besseren Gesellschaft ist jedoch schwierig; die negative Bestimmung – festzustellen, was wir ablehnen, und daraus das positive Bild einer besseren Gesellschaft zu entwickeln – ist erkennbar einfacher. In dieser Hinsicht denke ich, dass die Strategiedebatte durchaus sinnvoll war. Denn eine Partei kann eine politische Vision nur gemeinsam entwickeln, was in irgendeiner Form eine interne Debatte erfordert. Anderseits beginnt eine solche Debatte natürlich nicht bei Null, sondern, insbesondere in einem theorielastigen Umfeld wie in der Linken, bei bestimmten klassischen Bezugspunkte, und der wichtigste darunter ist für Linke nun mal Marx. Daher baut dieser Essay auch auf Abgrenzung gegen den Kapitalismus auf, und mit einem Kommentar zu Marx.
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