Rawls und Nozick gegen Marx

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6. Weitere Aspekte des ‚Systemvergleichs‘

Für eine wirtschaftstheoretische Positionierung, in der Debatte ‚Privateigentum (an Kapital) vs. Sozialismus‘ wäre in der Tat umfassend statistisches Material erforderlich. Wahrscheinlich liegt hier ein Anwendungsproblem vor, dass sich in der praktischen Philosophie nicht ganz vermeiden lässt; Philosophische Prinzipien, z.B. der Gerechtigkeit, sind notwendigerweise allgemein, während die Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Einzelfällen besteht. Bei Rawls (und offenbar auch bei Nozick) läuft die Beurteilung der Legitimität des Wirtschafts- und Sozialpolitik auf ein relationales Kriterium hinaus, bei dem verschiedene Gesellschaftsformen miteinander verglichen werden, was die Komplexität der Frage beachtlich erhöht; bei einen absoluten Kriterium wäre dies wohl einfach zu beantworten.

Die Argumente selbst sind trivial. Auf diese Weise würden Menschen jedes Bildungsniveaus über die Frage ‚Kapitalismus‘ oder ‚Sozialismus‘ diskutieren. Nicht-trivial ist die Frage, auf welcher Grundlage in einer solchen Diskussion argumentiert wird. Vor dem Bau der Berliner Mauer, als ein Wechsel zwischen den zwei ‚Systemen‘ vergleichsweise risikolos möglich war, handelte es sich um eine Argumentation nach dem Muster eines impliziten Vertrages. Die Berliner Mauer und der Grenzanlagen der DDR reduzierten sicherlich die Legitimität des sozialistischen Systems, weil in umgekehrter Richtung solche Einschränkungen einer freiwilligen Migration nicht bestanden. Aber nach welchem Muster wird argumentiert, wenn keiner der in der Diskussion beteiligten faktisch die Möglichkeit hat oder hatte, sich zwischen den verschiedenen Systemen zu entscheiden?

Die einfachen Vergleiche des Lebensstandards eines Arbeiters im Kapitalismus und im real-existierenden Sozialismus lässt sich als eine Form der interessenbezogenen Argumentation beschreiben. Ein Marxist, der versuchen wollte, die Arbeiter davon zu überzeugen, die ‚kapitalistische‘ Regierung zu stürzen (oder abzuwählen), müsste zunächst einmal plausibel machen, dass es den Arbeitern im Sozialismus tatsächlich besser gehen würde als im Kapitalismus. Sofern darunter der Sozialismus der Ostblock-Staaten im kalten Krieg verstanden wurde, war dies in der Tat wenig plausibel.  Dies ist natürlich kein Argument, den Arbeiter davon abzuhalten, sich für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im Kapitalismus einzusetzen. Aber es ist ein Argument dagegen, wieso Arbeiter im Wohlfahrtskapitalismus der 1950er bis 80er eine marxistische Revolution unterstützen sollten.

Nun ist die Phase des Wohlfahrtskapitalismus seit den neoliberalen Reformen unter Reagan und Thatcher in den USA und Großbritannien in den 1980ern und unter Schröder/Fischer in Deutschland in den späten 1990rn vorbei, was den ganzen Vergleich noch ein weiteres Element hinzufügen würde. Einem Arbeiter, der eine tarifgebundene Festanstellung hat, geht es in der BRD der Gegenwart sicherlich besser als einem Arbeiter in der DDR. Einem Arbeiter, der in dem durch Schröder/Fischer etablierten Niedriglohnsektor arbeitet, eher nicht. (Weil nicht klar ist, welche Präferenzen dieser Arbeiter haben würde, ist dies nicht eindeutig.) Deswegen konnte dieser Niedriglohnsektor auch erst etabliert werden, als die DDR und die deutsche Teilung Geschichte waren, und es die Alternative des real-existierenden Sozialismus nicht mehr gab.

Der eigentliche Punkt, an dem die aktuelle Sozialpolitik der BRD keine Legitimität mehr hat, ist die Frage der Versorgung der HartzIV-Empfänger. Die am wenigstens begünstigen im Kapitalismus sind nicht die Arbeiter; es wird absehbar, trotz aller Fortschritte der Medizin, Menschen geben, die aus gesundheitlichen Gründen nicht, oder nur eingeschränkt, arbeiten können. Vielleicht führt der technologische Fortschritt auch dazu, dass die Arbeitskraft von vielen Menschen gar nicht mehr gebraucht wird. Diese Menschen müssen über die Sozialpolitik versorgt werden, und bei der Einführung von Hartz IV ist dies nicht hinreichend berücksichtigt worden. Wer aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht arbeitsfähig ist, kann nur hoffen, dass es ihm gelingt, dies irgendwie medizinisch bescheinigt zu kriegen – ansonsten ist er in einem System gefangen, dass dafür ausgelegt ist, Menschen zu zwingen, zu arbeiten. Durch die HartzIV-Reformen wurden Menschen, die nicht arbeiten können, und die im Niedriglohnsektor arbeiten, wesentlich schlechter gestellt; für diese Menschen ist Sozialismus durchaus eine Alternative, bei der sie materiell bessergestellt sein könnten. Deswegen war DIE LINKE. ja auch zwischenzeitlich relativ erfolgreich. Wenn die Wählerinnen und Wähler allein nach ihrer Interessenlage entscheiden würde, dann käme sie sicherlich auf über 15 % bundesweit –  aber viele Wähler entscheiden nicht nach ihren materiellen Interessen, sonst ließe sich nicht erklären, wieso HartzIV-Empfänger AFD wählen.

An dieser Stelle ist noch ein weiteres Argument zu erwähnen. Es gab ja nicht nur die Flüchtlinge aus der DDR gegen Westen, sondern auch Menschen, die bewusst aus der BRD in die DDR umgesiedelt sind. Klar – der Lebensstandard des Arbeiters im Wohlfahrtskapitalismus ist höher, aber dafür ist der Arbeitsalltag dort, bei fordistischer Massenproduktion, auch häufig mehr verdichtet. Jemand, dem diese Arbeit zu anstrengend ist, oder der wenig begünstig ist, und aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht in der Lage ist, würde wahrscheinlich eine weniger anstrengende Arbeit bei einem etwas geringeren Lebensstandard vorziehen.  Damit wird das Ergebnis des ‚Systemvergleiches‘ als Gedankenexperiment uneindeutig, weil nicht mehr klar ist, von welchen Präferenzen dabei ausgegangen werden solle.

Trotz der Kritik an HartzIV ist die Alternative zum Neoliberalismus nicht der Sozialismus (definiert als die Aufhebung des Privateigentums an Kapital), sondern eine überarbeitete Variante des liberalen Wohlfahrtstaates der 1950er bis 80er. Es käme, und dies ist eine vereinfachte Variante von Rawls Theorie, darauf an, jenes ‚System‘ zu wählen, bei dem die am schlechtesten gestellten den relativ besten Lebensstandard haben. Wenn es den Ärmsten der Gesellschaft in einem regulierten Wohlfahrtskapitalismus besser geht als im Sozialismus, dann ist dieser Wohlfahrtskapitalismus dem Sozialismus vorzuziehen.

Völlig ohne Enteignungen von Kapital wird das meiner Meinung nach nicht gehen. In bestimmten Bereich müsste auch ein ansonsten kapitalistischer Wohlfahrtsstaat massiv in das Privateigentum einzugreifen. Die Rüstungsindustrie sollte schon allein deswegen verstaatlicht werden, weil es nicht legitim sein kann, mit dem Töten von Menschen Profite zu machen. Die Kostenexplosion bei den Mieten in den Großstädten wird nicht ohne eine massive Regulierung und zumindest einige Enteignungen in den Griff zu kriegen sein. Bestimmte Privatisierungen der öffentlichen Infrastruktur (z.B. Stromnetze) müssten, ggf. durch Enteignungen, rückgängig gemacht werden.

Solche Details sind aber keine Fragen der politischen Philosophie, sondern der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Um zu bestimmen, in welchen Bereichen eine freie Marktwirtschaft funktioniert, in welchen Bereichen die Marktwirtschaft stärker reguliert werden sollte, und in welchen Sektoren der Wirtschaft das Privateigentum an Kapital abgeschafft und durch eine Form von gesellschaftlichen Eigentum ersetzt werden sollte, braucht man eine öffentliche Debatte und eine entsprechend ausgerichtete Wirtschaftstheorie. Natürlich ist die Wirtschaftstheorie damit keine ‚wertfreie‘ Wissenschaft.

Es gibt noch weitere Aspekte, die eigentlich eine längere Diskussion erfordern würden. Das Problem mit einem solchen Essay ist natürlich, dass man nicht auf alle möglichen Gegenargumente eingehen kann; es gäbe da noch einige Punkte mehr, die zu diskutieren wären. Was wäre denn, wenn es in Sozialismus zwar nur gelegentlich Bananen oder Apfelsinen zu kaufen gäbe, dafür aber deutlich besseren Sex als im Kapitalismus? Eine solche These ist inzwischen auf der Länge eines Buches vertreten worden;  Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben

Ich habe das Buch bislang nicht gelesen, aber ich denke, dass diese These, zumindest für einen Teil der Bevölkerung im Sozialismus, zutrifft.  In so einer Situation würden diejenigen, für die guter Sex wichtiger ist als importierte Südfrüchte, sich doch für den Sozialismus entscheiden. Das theoretische Problem, was hier vorliegt, ist die Frage der Präferenzen (im Utilitarismus und in der Theorie rationaler Entscheidungen tritt das auch auf). Für manche Menschen ist guter Sex extrem wichtig, aber manche Menschen haben auch gar kein Interesse an Sex. Manche Menschen wären z.B. auch bereit, auf die ‚westlichen‘ Konsumgüter zu verzichten, wenn dafür ihre Arbeit nicht so verdichtet wäre wie im fordistischen Kapitalismus, und sie sich weniger anstrengen müssten. Die einen würden sich in so einer Situation für Sozialismus entscheiden, die anderen nicht. An dieser Stelle einfach ein Konzept wie ‚Lebensstandard‘ oder ‚Realeinkommen‘ als Grundlage des Vergleiches zu nehmen, wird der Komplexität der Entscheidungssituation eigentlich nicht gerecht.

Nun definiert Ghodsee ‚Sozialismus‘ aber nicht anhand der Frage über das Eigentum an den Produktionsmitteln. In einem Artikel über ihr Buch heißt es:

Sie bezieht sich dabei in erster Linie auf sozialistische Ideale. Mit „Sozialismus“ ist also nicht der gesamte Staatssozialismus der Vergangenheit mit Stasi, Gulag & Co. gemeint, sondern das Ideal der Gleichheit. Sie erklärt: „Die DDR und die Sowjetunion sind Schnee von vorgestern, und dabei sollte es auch bleiben. Mir geht es um etwas anderes: Die Gräuel des Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts sollten nicht dafür missbraucht werden, jede Kritik an den Problemen des heutigen Kapitalismus zum Verstummen zu bringen.”

Den Entwurf einer besseren Gesellschaft (in dem z.B. Menschen besseren Sex haben, weil Frauen finanziell von Männern unabhängig sind) sollte man vielleicht nicht ‚Sozialismus‘ nennen, wenn man sich von der DDR und der Sowjetunion distanzieren will. Die begrifflichen Alternativen zu ‚Sozialismus‘  (hier definiert als die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln) wäre entweder ‚Kommunismus‘ (das Ziel einer idealen klassenlosen Gesellschaft ohne ökomimische Ungleichheiten) oder eben ‚Egalitarismus‘ (als die Forderung nach einer drastischen Reduzierung ökonomischer Ungleichheiten). Das Problem mit dem Begriff ‚Egalitarismus‘ ist natürlich, dass er in der linken politischen Debatte nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Von John Rawls hat man vielleicht mal gehört, aber die Inhalte von dessen politischer Theorie sind nicht bekannt. Dies liegt sicherlich auch darin begründet, dass die politische Philosophie bei Rawls auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau betrieben wird.

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