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5. Rawls Kritik an Nozick
Die hypothetische Gegenüberstellung von mehreren Wirtschaftssystemen als Gedankenexperiment ist eine Variation der Überlegung, welche Rawls zu dem Unterschiedsprinzip in der »Theory of Justice« führt. Im Wirtschaftssystem A (‚Kapitalismus‘) ist ein Großteil der Produktionsmittel das Eigentum von Kapitalisten, welche einen deutlich höheren Lebensstandard haben als die Arbeiter. In Wirtschaftssystem B (‚real-existieren Sozialismus‘) gibt es keine Kapitalisten, stattdessen werden die Produktionsmittel von der Bürokratie einer kommunistischen Partei verwaltet. Der Lebensstandard der mächtigeren Parteifunktionäre ist zwar besser als jener der Arbeiter, der Unterschied ist aber in Wirtschaftssystem B geringer als in bei Wirtschaftssystem A. Wenn aber die Arbeiter in Wirtschaftssystem A besser gestellt sind und einen höheren Lebensstandard haben als in Wirtschaftssystem B, dann würden sich die Arbeiter (oder Politiker, welche die Interessen der Arbeiter vertreten) doch für Wirtschaftssystem A entscheiden. In den meisten Fällen ist diese Entscheidung eine hypothetische, aber nicht immer, wie das Beispiel der DDR vor dem Mauerbau (oder das Beispiel von Deng Xiaoping) zeigt.
Im nächsten Schritt lässt sich auf ein Argument eingehen, welches sich aus marxistischer Sicht gegen die Kritik von Nozick vorbringen lässt. Auch zwischen 1960 und 1990 hätten sicherlich nicht wenige westlichen Marxisten argumentiert, dass die Gesellschaftssysteme der Sowjetunion und Chinas keinesfalls das sind, was Marx und Engels intendiert haben; einen ‚echten‘ Kommunismus gibt es noch gar nicht. Es käme, wenn überhaupt, darauf an, den Kapitalismus mit einem noch zu erschaffenden Kommunismus zu vergleichen. Das Problem des Marxismus ist gar nicht so sehr die Frage, ob eine Revolution möglich ist, sondern die Frage, wie die Gesellschaft, die dadurch geschaffen werden soll, genau aussieht. Man müsste also in den Vergleich noch ein Wirtschaftssystem C (‚echten Kommunismus‘) mit hineinnehmen. Aber wie viele verschiedene Wirtschaftssysteme ständen zur Auswahl? Wenn jemand sich zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen entscheiden müsste, und man ihm eine Tabelle vorlegen könnte, aus dem klar hervorgeht, welchen Lebensstandard er in welchem Wirtschaftssystem zu erwarten hätte, dann würde er sich für das Wirtschaftssystem entscheiden, welches ihm den besten Lebensstandard verschaffen würde. Es käme aber darauf an, in dieser Tabelle nicht nur alle bestehenden Wirtschaftssysteme, sondern auch alle potentiell möglichen Wirtschaftssysteme zu erfassen.
Nun lässt sich Rawls Argumentation mittels eines hypothetischen Vertrags kompakt darstellen; Als nächstes wäre nämlich für das Gedankenexperiment festzulegen, ob derjenige, der sich zwischen den verschiedenen Wirtschaftssystemen entscheiden soll, wissen kann, welche Position er dort jeweils einnehmen würde. Wäre er z.B. im Kapitalismus Arbeiter oder Kapitalist; wäre er in einem Sozialismus nach dem sowjetischen Vorbild Arbeiter oder Parteifunktionär? Wenn der Betreffende dies nicht weiß, dann ist dies effektiv die gleiche Annahme wie Rawls ‚Schleier des Nichtswissens‘. Er wird sich, eine entsprechend geringe Risikopräferenz vorausgesetzt, für dasjenige Wirtschaftssystem entscheiden, in dem die am schlechtesten Gestellten den im Vergleich der Wirtschaftssysteme besten Lebensstandard genießen. Dies ist das Unterschiedsprinzip („difference principle“) in Rawls‘ »Theorie der Gerechtigkeit«, der eine wesentliche Teil des zweiten der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze („principles of justice“). (Der andere ist das Prinzip der Chancengleichheit, welches an dieser Stelle nicht relevant ist.) Die Definition des Unterschiedsprinzip im Anschluss an dessen argumentativ anspruchsvolle Herleitung ist folgende:
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, daß sie […] den am wenigsten begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen. (Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, S. 104)
Leichter zugänglich ist Rawls Überlegung anhand des Schleiers des Nichtwissens; die Annahme wird konkret beschrieben:
Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. (ebd., S. 160)
Wieso Rawls an diesem Punkt auch die Kenntnis über Eigenschaften wie Intelligenz und Stärke ausschließen muss, wird einige Seiten später klar: „Auch würde niemand den Grundsatz vorschlagen, die Grundrechte sollten von der Hautfarbe oder Haarform abhängen.“ (S.175); weil, natürlich, unter dem Schleier des Nichtwissens gar nicht bekannt ist, welche Hautfarbe oder Haarform man hat; es geht darum, rassistische Positionen auszuschließen.
In einer solchen, ganz klar als hypothetisch gekennzeichneten, Entscheidungssituation, wird eine Person, die ihre Risiken minimiert und entsprechend der Maximin-Regel aus der Theorie rationaler Entscheidungen handelt, diejenige Gesellschaft wählen, in der er die größten Vorteile hätte (in der hier verwendeten Variation: den besten Lebensstandard zu erwarten hätte), auch wenn er die niedrigste Klassenposition bzw. den geringsten sozialen Status („class position or social status“) erhalten sollte (vgl. Theorie der Gerechtigkeit, S. 178ff) Die Einschränkung durch die Maximin-Regel ist wichtig; wenn die Menschen in der hypothetischen Entscheidungssituation des Urzustandes nicht bestrebt sind, ihre Risiken zu minimieren, ergibt sich statt dem Unterschiedsprinzip das Prinzip des Durchschnittsnutzens (S.195ff)
Damit argumentiert Rawls natürlich nicht direkt auf der Grundlage von Eigeninteresse; die Annahme von Eigeninteresse (bei Risikominimierung) dient nur dazu, die Grundsätze der Gerechtigkeit zu bestimmen, auf deren Grundlage wiederum die Legitimität des Staates und dessen Institutionen beurteilt werden soll. In einer Argumentation mit dem Gedankenexperiment eines hypothetischen Vertrages tritt das Element der Freiwilligkeit des Vertrages nur sehr entfernt auf. Es handelt sich um ein Gedankenexperiment, aus dem sich, der Sache nach, keine Verbindlichkeit ergeben kann; zum anderen ergibt sich die Schlussfolgerung des Gedankenexperimentes aus der Analyse der hypothetischen Entscheidungssituation. Die Frage ist nur, für welches Wirtschaftssystem sich jemand in der so beschriebenen Situation entscheiden würde; dass jemand, der eine solche Entscheidung umsetzt, und in ein Land mit dem von ihm präferierten Wirtschaftssystem umsiedelt, diesem System dann explizit zugestimmt hat, und jemand, der die Möglich dazu hat, aber in seinem bestehenden Wirtschaftssystem verbleibt, diesem implizit zugestimmt hat – das hat für die Schlussfolgerung aus dem Gedankenexperiment keine weitere Bedeutung.
Aber welches Wirtschaftssystem ergibt sich nun aus dem Gedankenexperiment? Wofür müsste man im Sinne von Rawls‘ »Theory of Justice« plädieren? Tatsächlich lässt sich diese Frage nur ansatzweise beantworten; in den 1980ern war sie Gegenstand einer Debatte in der Zeitschrift »Political Theory« (die auf Englisch geführt wurde: die Zitate im Folgenden wurden daher nicht übersetzt. Genaue Nachweise auf Anfrage.) Auf einen Artikel von Arthur DiQuattro, in welchen dieser zu zeigen versuchte, dass Rawls „is essentially compatible with socialist, including Marxist, ideas of social justice“ ist (DiQuattro 1983, S. 53), reagierte Lawrence Connin mit einem Hinweis auf die Rawls-Interpretation durch Hayek, welche dem hier dargestellten Argument ähnelt; der Kapitalismus wäre dem Sozialismus vorzuziehen, so Connins Darstellung von Hayek, weil darin die niedrigste soziale Klasse noch den höchsten Lebensstandard hat: „the market system in Hayek’s view provides the bost hope for economic advancement for those at the bottom“ (Connin 1985,S. 140). DiQuattro antworte darauf mit einem Artikel »Rawls Versus Hayek« (1986). Als Ergebnis der Debatte lässt sich festhalten, dass die zu Grunde liegende Frage anhand der »Theory of Justice« alleine nicht zu beantworten ist. DiQuattro stimmte mit Connin darin überein „that Rawls is not sufficiently determinate in selecting out those distributive institutions that are compatible with, or required by, his theory” (DiQuattro 1986, S. 307). Er hat diesbezüglich direkt mit Rawls korrespondiert, und dieser habe ihm geschrieben, dass seine Theorie „deliberately indeterminate“ sei. Rawls
seeks to „avoid the question of the correctness of important social theories and rather set out a conception of justice on the basis of which the question of private property vs. socialism in the means of production could be reasonably discussed.“ (DiQuattro 1986, S. 307)
Rawls‘ Theorie befindet sich also auf einer Abstraktionsebene, die der Debatte ‚Kapitalismus gegen Sozialismus‘ übergeordnet ist. Dies lässt sich auch am Text der »Theory of Justice« selbst zeigen. Rawls weist ausdrücklich auf die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Unterschiedsprinzips hin:
Nun bestehen über die Frage, ob Gesetze gerecht oder ungerecht sind, besonders auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik gewöhnlich wohlbegründete Meinungsverschiedenheiten. In diesen Fällen hängt das Urteil oft von spekulativen politischen und wirtschaftlichen Theorien und von der Gesellschaftstheorie überhaupt ab. Oft kann man von einem Gesetz oder einem politischen Programm gerade nur sagen, es sei nicht offensichtlich ungerecht. Eine genaue Anwendung des Unterschiedsprinzips erfordert gewöhnlich mehr Kenntnisse, als man sich erhoffen kann, und jedenfalls mehr, als die Anwendung des ersten Grundsatzes verlangt. (Theorie der Gerechtigkeit, S. 227)
Dies ist insbesondere auch für die Diskussion des zivilen Ungehorsams wichtig. Weil die Anwendung des Unterschiedsprinzip, als Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, mehr Informationen erfordert, als man erwarten dürfte zu haben, ist ziviler Ungehorsam in diesem Fall, anders als beim ersten Gerechtigkeitsgrundsatz, viel schwieriger zu rechtfertigen.
Demgegenüber sind Verletzungen des Unterschiedsprinzips schwerer festzustellen. Gewöhnlich gibt es eine breite Skala unterschiedlicher, aber je vernünftiger Auffassungen darüber, ob dieser Grundsatz erfüllt ist, da er sich hauptsächlich auf wirtschaftliche und soziale Institutionen und Maßnahmen bezieht. Eine Entscheidung zwischen ihnen hängt von theoretischen und spekulativen Auffassungen wie auf vom Umfang statistischer und anderer Daten ab, wozu noch ein scharfsinniges Urteil und völlig vage Ideen hinzukommen. Diese Fragen sind so verwickelt, daß eigenes Interesse und Vorurteil schwer fernzuhalten sind; und auch wenn einem das vor sich selbst gelingt, ist es eine andere Sache, die anderen von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. (Theorie der Gerechtigkeit, S. 410)
Solange es nur um eine Position in der Debatte ‚Kapitalismus gegen Sozialismus‘ geht (und nicht um die Frage des Widerstandsrechts), ist es allerdings nicht ganz so schwierig, wie Rawls dies hier beschreibt. Für eine Positionierung, die den Ansprüchen an eine öffentliche Debatte genügt, sind „umfangreiche und anderen Daten“ nicht erforderlich; es reicht, auf einige Tatsachen zu verweisen, welche allgemein bekannt sind oder gut dokumentiert. Für die Frage nach dem Vergleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus braucht man also keine umfassende Wirtschaftstheorie; man kann statt dessen die Berliner Mauer oder das Katzengleichnis von Deng Xiaoping verweist, um die Überlegenheit des Wohlfahrtskapitalismus gegenüber dem leninistischen und maoistischen Modell des Sozialismus zu begründen.
Wenn man die statistischen Informationen zusammenträge, würde man auch auf Zahlen dazu stoßen, die belegen, wie Menschen aus der BRD in die DDR umgesiedelt sind oder wie krisenanfällig die moderne chinesischen Wirtschaft sein könnte. Aber dies ist eine wirtschaftstheoretische Fragestellung, und keine der politischen Philosophie. Was aber auch bei einer Debatte in der politischen Philosophie kaum zulässig sein kann, ist jenes Argument, was bei DiQuattro in einer Fußnote ausgeführt wird:
if socialists have a generally correct account of capitalism and socialism, (1) the latter leaves the worst-off class better off than does capitalism, […] it is an additional empirical question whether socialism can outperform a property-owning democracy in these respects (DiQuattro 1983, S. 77)
Ist die sozialistische Auffassung des Kapitalismus und Sozialismus „generally correct“? Auch ohne statistische Auswertungen darf dies bezweifelt werden, und aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts lässt sich dies, nach dem Fall der Mauer und anderen Ereignissen, sicherlich nicht unkritisch stehen lassen.
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