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4. Nozicks Kritik an Marx
Mit dieser Kritik an Marx beanspruche ich keinesfalls Originalität; im Gegenteil, diese Überlegungen entstanden bei der Beschäftigung mit dem modernen Kontraktualismus. In »Anarchy, Staat, Utopie« von Robert Nozick gibt es ausführliche Diskussion der Marxschen Theorie des Arbeitsvertrages. Die entscheidende Frage formuliert Nozick in einem etwas komplexen Beispiel so:
Z muss arbeiten oder verhungern; […] Entscheidet sich Z freiwillig zum Arbeiten? (Nozick, Anarchy, Staat, Utopie, deutsche Ausgabe 1976, S. 240)
Wenn man sich nicht auf extreme philosophische Spitzfindigkeiten einlassen will, dann ist dies natürlich eine rhetorische Frage. Verhungern ist keine Option, die als Alternative in Frage kommt; wenn einem nur eine bestimmte Arbeit angeboten wird, oder der Hungertot, dann ist die Entscheidung, die angebotene Arbeit anzunehmen, nicht freiwillig. Aber ‚Freiwilligkeit‘ alleine kann umfassendes Kriterium für politische Legitimität sein, da die Menschen nicht freiwillig in der Gesellschaft zusammenleben; die Option, die Gesellschaft zu verlassen, und alleine im Naturzustand ohne andere Menschen zu leben, gibt es nicht.
Nun verwendet Nozick in der Diskussion der Legitimität des Arbeitsvertrages nicht direkte Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus. Stattdessen nimmt er, im Rahmen eines Gedankenexperiments an, dass es neben dem privaten Sektor, in welchem die Arbeiter mit den Kapitalisten verhandeln, einen öffentlichen Sektor gibt. In dem öffentlichen Sektor resultieren die Löhne nicht aus den Verhandlungen der Arbeiter mit den Kapitalisten, so dass dort, nach dem marxistischen Begriff, keine Ausbeutung stattfindet. Nozick nimmt an, dass jeder, der dort arbeiten will, im öffentlichen Sektor Arbeit finden würde. Jeder Arbeiter, der unter diesen Umständen weiterhin im privaten Sektor arbeitet, täte das in der Tat freiwillig; dies ist, abgesehen davon, dass es sich natürlich um ein Gedankenexperiment handelt, zunächst das Argumentationsmuster eines impliziten Vertrages! Nozicks nimmt dann, im Rahmen dieses Gedankenexperiments an, dass der öffentliche Sektor langfristig verschwinden würde.
Angenommen, der private Sektor dehne sich aus, und der öffentliche Sektor werde immer schwächer. Immer mehr Arbeiter, so wollen wir annehmen, wählen die Arbeit im privaten Sektor. Dort seien die Löhne höher als im öffentlichen Sektor und stiegen ständig. Stellen wir uns nun vor, nach einiger Zeit sei der schwache öffentliche Sektor zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunken und vielleicht ganz verschwunden. Ist damit irgendeine Veränderung verbunden? […] Die [marxsche] Theorie der Ausbeutung scheint behaupten zu müssen, daß eine wichtige Veränderung statt finde; und diese Behauptung leuchtet überhaupt nicht ein. (Nozick, Anarchy, Staat, Utopie; S.232f)
Tatsächlich findet an dieser Stelle, bei dem Verschwinden des öffentlichen Sektors in Nozicks Gedankenexperiment, ein wichtiger Übergang in der Argumentation statt, nämlich von einem Konzept eines impliziten Vertrages zu einer anderen Form der kontraktualistischen Argumentation. Es muss sich hierbei um ein Konzept hypothetischer Zustimmung handeln. Im ersten Fall besteht tatsächlich eine freie Entscheidungsmöglichkeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, im zweiten Fall besteht diese Möglichkeit nicht, es lässt sich allerdings plausibel postulieren, dass jemand die Beschäftigung im privaten Sektor vorziehen würde. Nur – damit würde sich die Frage ergeben, wie aus einer hypothetischen Zustimmung eine Verbindlichkeit folgen lässt. Auf welcher Grundlage kann dieses Gedankenexperiment, also eine kontraktualistische Theorie, die mit einer hypothetischen Entscheidung argumentiert, überhaupt überzeugen? Hier liegt ein philosophisches Problem vor, das Kersting mit der nötigen Deutlichkeit formuliert: „Hypothetischen Verträgen fehlt die normative Wirkung der Selbstverpflichtung. In einem hypothetischen Vertrag vermag ich mir ebensowenig freiwillig eine Verpflichtung aufzulegen, wie ich mit eingebildeten 100 DM eine Rechnung begleichen kann.“ (Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 33). Am besten bekannt ist dazu wohl das Zitat von R. Dworkin: „Ein hypothetischer Vertrag ist nicht einfach eine blasse Form eines Vertrages; es ist gar kein Vertrag.“ (In: Daniels, N.: Reading Rawls, 1975, S. 18) In diesem Fall liegt die Antwort, denke ich, in einer Überlegung, die insbesondere die Philosophin Jean Hampton als Alternative zu der Theorie von Rawls vertreten hat (»Hobbes and the Social Contract Tradition«, 1986). Diese Variante des Kontraktualismus versucht Legitimität über (langfristiges) Eigeninteresse zu begründen.
So lässt sich, denke ich, auch die Frage der Entscheidung zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen verstehen. Denn dies ist keine rein hypothetische Entscheidung. Selbst wenn es nicht die Möglichkeit gibt, zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen zu wechseln, so ist es jederzeit möglich, sich für eine Änderung des bestehenden Wirtschaftssystems einzusetzen. In einer kapitalistischen Demokratie, in der auch sozialistische Parteien zugelassen sind, ist dies sogar legal. (In einem sozialistischen Staat nach leninistischen oder maoistischen Modell in dem es keine freien Wahlen gibt, ist es hingegen nicht legal, sich offen für Kapitalismus auszusprechen. Grundsätzlich ist es in jeder Gesellschaft möglich, sie verändern zu wollen.) Aber würde ein Arbeiter im Kapitalismus der BRD der 1970er oder 80ern ein Interesse haben, sich politisch für einen Sozialismus wie in DDR einzusetzen? Dies war das Problem der marxistischen Agitation unter den Arbeitern in der kapitalistischen BRD in den 1970ern und 80ern. Ihre theoretische Grundlage, die beansprucht, sich für die Interessen der Arbeiter einzusetzen, war unglaubwürdig, weil jeder Arbeiter selbst sehen konnte, dass die Menschen in der DDR von ihrer Regierung mit Gewalt daran gehindert wurden, auszureisen, es ihnen als im (real-existierenden) Sozialismus offenbar nicht besser ging als im Kapitalismus. Wieso sollte ein Arbeiter das Leben in Sozialismus vorziehen, wenn er doch im Kapitalismus einen höheren Lebensstandard hat? Es handelt sich in diesem Fall um eine interessenbezogene Argumentation.
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