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3. Arbeitsvertrag, Ausbeutung und ‚Systemvergleich‘
Lockes Auffassung, dass Menschen die Freiheit haben, die Gesellschaft zu verlassen, wird bei den einschlägigen Autoren der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts durchgängig kritisch gesehen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft können sich die Menschen auf unterschiedliche Berufe spezialisieren, was für alle vorteilhaft ist. Zugleich führt dies jedoch dazu, dass die verschiedenen Individuen auf andere Individuen angewiesen sind, um Leben zu können. Im Vergleich den ‚wilden Menschen‘ in dem (wahrscheinlich als hypothetisch gedachten) Naturzustand sind sie nicht mehr autark. Rousseau formuliert dies im »Diskurs über die Ungleichheit« stilistisch gekonnt.
Ich höre stets wiederholen, dass die Stärkeren die Schwachen unterdrücken; aber man möge mir erklären, was man mit dem Wort ‚Unterdrückung‘ sagen will. Die einen werden mit Gewalt herrschen, die anderen werden, all ihren Launen verknechtet, wehklagen. Das ist präzise das, was ich unter uns beobachte, aber ich sehe nicht, wie man dies von den wilden Menschen sagen könnte, denen man sogar große Mühe hätte verständlich zu machen, was Knechtschaft und Herrschaft sind. Ein Mensch wird sich wohl der Früchte, die ein anderer gesammelt hat, der Höhle, die ihm als Zuflucht diente, bemächtigen können; aber wie wird er jemals dahin gelangen, sich Gehorsam zu verschaffen, und welches werden Ketten der Abhängigkeit sein unter Menschen, die nichts besitzen? […]
da die Bande der Knechtschaft nur aus der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen und den gegenseitigen Bedürfnissen, die sie verbinden, geknüpft werden, [ist] es unmöglich […], einen Menschen zu knechten, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, nicht ohne einen anderen auskommen zu können: eine Situation, die, da sie im Naturzustand nicht existiert, dort einen jeden vom Joch frei bleiben lässt und das Gesetz des Stärkeren wirkungslos macht. (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, UTB, 2008, S. 165)
Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft sind voneinander abhängig, und deswegen ist Ausbeutung möglich. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist ein wesentlicher Teil der Definition der bürgerlichen Gesellschaft bei Hume, Rousseau und Adam Smith. (Weitere Belege dafür fehle an dieser Stelle aus Platzgründen, aber wenn Interesse besteht kann ich meine Exzerpte dazu zusammenstellen.)
Was Smith, und später Marx, gegenüber Rousseau und Hume neues bieten, ist die Einsicht, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Arbeitsvertrages organisiert ist. Bei Marx findet sich die Analyse des Arbeitsvertrages in Kapitel 4, Abschnitt 3, »Kauf und Verkauf der Arbeitskraft« in Band I des »Kapitals« (MEW 23, S. 181-191), bei Smith in Buch 1, Kapitel 8 des »Wohlstand der Nationen« (Glasgow Edition, Bd. 1, S. 82-104) Adam Smith beschreibt (wie Marx!) das Problem, dass der Arbeiter in der Regel nicht über die Möglichkeit verfügt, die Materialien für seine Arbeit vorzustrecken, und dass er daher auf einen ‚Meister‘ („master“) angewiesen ist, der diese im Voraus kauft. Daraus entsteht der Profit des ‚Meisters‘. (ebd., S. 83) Der ‚Meister‘ heißt hier noch nicht ‚Kapitalist‘, aber dies ist die gleiche formale Beschreibung des dem Arbeitsvertrag zu Grunde liegenden Abhängigkeitsverhältnisses, wie man sie auch bei Marx findet. Der Unterschied ist natürlich, dass Smith davon ausgeht, dass das im Arbeitsvertrag vorliegende Abhängigkeitsverhältnis nicht grundsätzlich kritikwürdig ist. Adam Smith betont, dass die Löhne der Arbeiter zwar niedrig, aber dennoch in Übereinstimmung mit allgemeiner Menschlichkeit („consistent with common humanity“) sind (ebd., S. 85).
Für Marx hingegen sind die niedrigen Löhne im Kapitalismus sicherlich nicht legitim. Da der Arbeiter von den durch den Kapitalisten bereit gestellten Produktionsmitteln abhängig ist, ist dessen Verhandlungsposition beim Aushandeln des Arbeitsvertrages deutlich schlechter, und die „Minimalgrenze des Werts der Arbeitskraft wird gebildet […] durch den Wert der physisch unentbehrlichen Lebensmittel“. (MEW 23, S. 187) Während Adam Smith letztlich ein moralphilosophisch begründetet Konzept von Legitimität zu Grunde legt, um zu begründen, wieso die niedrigen Löhne der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft zulässig sind, ist mir immer noch nicht ganz klar, wie Marx begründet, dass der Kapitalismus nicht legitim ist. Die Geschichtstheorie der Überwindung des Kapitalismus durch Sozialismus und Kommunismus hat dabei sicherlich eine wesentliche Aufgabe: Kapitalismus ist definiert anhand des Privateigentums an Kapital (den Produktionsmitteln), wodurch den Kapitalisten die Ausbeutung der Arbeiterklasse ermöglicht wird. Dies ermöglicht eine Definition von Sozialismus: Sozialismus ist der Begriff des Gegensatzes von Kapitalismus und beschreibt dementsprechend eine Gesellschaft, in der das das Privateigentum an Kapital abgeschafft und die Produktionsmittel vergesellschaftet sind. SozialistInnen sind diejenigen, die das Privateigentum an Kapital abschaffen und die Produktionsmittel in eine Form gesellschaftlichen Eigentums überführen will.
An dieser Stelle zeigt der Vergleich des real-existierende Sozialismus der DDR und des Ostblocks mit dem Kapitalismus der 1970er und 80er jedoch ein Problem auf: Was ist, wenn es den Arbeitern im Kapitalismus besser geht als den Arbeitern im Sozialismus? Die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus des späten 20. Jahrhunderts ein höheres Maß an Legitimität hat als die Formen des Sozialismus, welche zu der Zeit verwirklicht waren, ist dann unausweichlich. Solchen ‚Systemvergleichen‘ liegt eine kontraktualistische Argumentation zu Grunde. Im Fall eines impliziten Vertrages ist vergleichsweise einfach zu verstehen, wie dabei argumentiert wird. Wer aus einem Wirtschaftssystem in das andere auswandern könnte, es jedoch nicht tut, hat implizit dem System, in dem er sich befindet, zugestimmt. Allerdings sind Situationen, in denen es direkt die Möglichkeit gibt, zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen zu wählen, sehr selten. Man kann also, wenn überhaupt, nur unter sehr speziellen Umständen die Legitimität eines Wirtschaftssystems (Kapitalismus oder Sozialismus) dadurch begründen, dass sich Menschen frei dafür entschieden haben. In diesen Situationen handelt es sich um ein Argument nach dem Muster eines impliziten Vertrages. Wenn die Menschen in dieser Situation sich stärker für ein bestimmtes System entscheiden, dann hat dieses System eine höhere Legitimität. In der historischer Situation, die nach dem Bau der Berliner Mauer bestand, in der es den Menschen aus dem kapitalistischen Westen erlaubt war, in sozialistische Länder auszuwandern, umgekehrt jedoch in Regelfall nicht, ist dem kapitalistische System dementsprechend eine deutliche höhere Legitimität zuzuschreiben. Diese Form der Argumentation sollte nicht kontrovers sein. Chruschtschow, immerhin von 1953-64 Vorsitzender der KP der Sowjetunion, ist sich in seiner Autobiographie durchaus darüber im Klaren, dass ein Verbot der Ausreise die Legitimität eines Staates reduziert. In seiner Autobiographie schreibt er:
Wir Kommunisten glauben, daß der Kapitalismus eine Hölle ist, in der die arbeitenden Menschen zur Sklaverei verdammt sind. Wir bauen Sozialismus. Wir haben bereits auf vielen Gebieten Erfolge erzielt, und wir werden in Zukunft noch erfolgreicher sein. Die Art, wie wir unser Leben gestalten, ist bei dem heutigen Stand der Menschheitsentwicklung ohne Zweifel die fortschrittlichste der Welt. Sie ist, um noch einmal die Sprache der Bibel zu benutzen, das Paradies der Menschheit. […]
Warum sollten wir uns da nun selbst widersprechen? Warum sollten wir erst einem ganzen Volk ein schönes Leben schaffen und dann unsere Grenzen mit sieben Schlössern versperren? Manchmal schimpfen unsere eigenen Sowjetbürger: ‚So, also mit der Keule treibt ihr uns ins Paradies, wie?‘ […] Ich meine, es ist an der Zeit, der Welt zu zeigen, daß die Menschen bei uns frei sind; sie arbeiten willig, und sie bauen Sozialismus auf, weil sie Sozialismus überzeugt sind und nicht, weil sie keine andere Wahl haben. (Chruschtschow erinnert sich, 1971, S. 524)
Jegliches Reformpotential, welches der Sozialismus der Sowjetunion der 1950er und 60er gehabt haben mag, war aber dann wohl dahin, nachdem Breschnew 1964 die Macht übernommen hatte. Nun war die parallele Existenz von DDR und BRD, sowie die Möglichkeit, zwischen zwei Systemen zu wechseln, ein temporäres Phänomen. Seitdem die Sowjetunion nicht länger existiert, und China de facto auf ein kapitalistisches Wirtschaftssystem hat, lässt sich ein Systemvergleich nicht mehr auf der Ebene eines impliziten Vertrags führen. Dafür ergibt sich es ein anderes Beispiel für die Form der normativen Schlussfolgerung, die auch dem Argumentationsmuster eines hypothetischen Vertrages zu Grunde liege. Deng Xiaoping soll, als er in China die Reformen zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem auf den Weg gebracht hat, die Formulierung verwendet habe: „Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache ist, sie fängt Mäuse.“ Wenn man sich zwischen zwei Katzen entscheiden sollte, und man ein Problem mit Mäusen hat, dann wird man sich für die Katze entscheiden, die mehr Mäuse fängt. Wenn man, z.B. weil man an der Spitze einer kommunistischen Partei steht (und den Rückhalt für die Entscheidung bei den führenden Parteikadern hat), die Möglichkeit hat, zwischen zwei Wirtschaftssystem zu wählen, und man einen möglichste hohen Lebensstandard für die Arbeiter wünscht – dann würde man sich nicht unbedingt für eine Planwirtschaft nach dem Vorbild des real existierenden Sozialismus entscheiden, sondern eher für eine Form des Kapitalismus, wenn dieser tatsächlich in der Lage ist, den Arbeitern einen höheren Lebensstandard zu gewähren.
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