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2. Der implizite Vertrag im Kontraktualismus
Der Verweis auf einem impliziten (d.h. stillschweigenden Vertrag) ist eine der Formen der Argumentation in den Vertragstheorien. Er ist eines der Elemente des Vertrages im Kontraktualismus. Eine ausführliche Beschreibung davon (leider in einem fachphilosophischen Jargon) findet sich in W. Kerstings Überblicksdarstellung: »Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages« (S. 36):
Der Vorteil der Theorie des impliziten Vertrages oder der stillschweigenden Zustimmung liegt darin, daß die Theorie über den Weg des zustimmungskonkludenten Verhaltens von wirklicher vollzogener Zustimmung ausgeht, damit also empirische Fälle von legitimitätsstiftender freiwilliger Selbstverpflichtung zu Grunde legen und folglich die Bedingung einer rationalen Inanspruchnahme der Institution freiwilliger Selbstverpflichtung für legitimationstheoretische Zwecke erfüllt.
Das wichtigsten Beispiel für eine Argumentation in der Form eines impliziten Vertrages ist John Lockes berühmte Eigentumstheorie von ca. 1690. Locke versucht in dem berühmten Eigentumskapitel des »Second Treatise« (der »Zweiten Abhandlung über die Regierung«) über einen impliziten Vertrag die ungleiche Verteilung des Eigentums zu legitimieren. Zu Beginn des Kapitels steht die Frage, „wie denn irgendjemand überhaupt einen beliebigen Gegenstand als Eigentum besitzen kann.“(Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Suhrkamp, 1977, S. 215); schließlich hat Gott „die Erde den Menschen gemeinsam gegeben“ (ebd.). Locke beansprucht zu zeigen,
[…] daß die Menschen mit einem ungleichen und unproportionierten Bodenbesitz einverstanden gewesen sind. Denn sie haben durch stillschweigende und freiwillige Zustimmung einen Weg gefunden, wie ein Mensch mehr Land besitzen darf als er selbst nutzen kann. (ebd., S. 230)
Der zentrale Begriff hier ist der einer „stillschweigenden und freiwilligen Zustimmung“, also der implizite Vertrag. Aus Gründen des Textumfanges beschränke ich mich hier auf diese zwei Zitate, und verweise für die näheren Erläuterungen auf die Sekundärliteratur in einem Sammelband über Eigentumstheorien.
Wer am Geldgebrauch teilnimmt, stimmt […] der damit unweigerlich entstehenden Ungleichheit freiwillig zu, denn […] es steht ihm ja jederzeit frei, aus dem Geldverkehr wieder auszusteigen und sich in jene unbewohnten Gegenden der Erde […] [z.B. in Nordamerika] zurückzuziehen, in denen der ’natürliche‘, wenn auch bescheidene, von Gott allen Menschen zugeteilte Überfluß weiterhin besteht. (Ludwig, John Lockes Eigentumstheorie; in: Eckl/Ludwig: Eigentumstheorien von Platon bis Habermas, 2005, S. 97)
Die bürgerliche Gesellschaft, in der Geld gibt und das Eigentum, insbesondere an Grundbesitz, ungleich verteilt sind, und der ursprüngliche Zustand der Menschen (nicht ganz dasselbe wie der Naturzustand), existieren zu Lockes Zeit parallel. Wer nicht mehr mit der Verteilung des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft zufrieden ist, kann, so also Locke, nach Nordamerika oder einen anderen ‚leeren Ort‘ (dies ist, auf Latein, der Fachbegriff bei Locke dafür) auswandern; wenn man es nicht tut, hat man implizit der ungleichen Verteilung des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft zugestimmt.
Dieses Argument ist auf jeden Fall originell, und für sich genommen auch durchaus plausibel, aber insgesamt ziemlich unrealistisch. Wie Hume in seinem berühmten Essay über den „ursprünglichen Vertrag“ festgestellt hat, kann man wohl kaum davon ausgehen, dass ein „einfach Bauer oder Handwerker die freie Wahl hat, sein Land zu verlassen.“ (Hume, Political Essays, Cambridge University Press, 1994, S. 193) Mal ganz abgesehen davon, dass, zum einem, die ‚leeren Orte‘, die Locke für diese Argumentation braucht, auch damals nicht unbewohnt waren; die Menschen, die z.B. in Nordamerika lebten, haben nur nicht in der gleichen Weise Ackerbau betrieben, wie die Europäer. Zum anderen sind diese leeren Orte natürlich seit ca. 1900, als die USA ihre Westward Expansion abgeschlossen hatten, verschwunden, Lockes Eigentumstheorie ist daher, wenn man sie so interpretiert, nur noch philosophiegeschichtlich interessant.
Allein aus philosophiegeschichtlichem Interesse lohnt sich aber die Beschäftigung mit dem Thema. Marx setzt sich in dem letzten ursprünglichen Kapitel der »Kritik der politischen Ökonomie« (MEW 23, S. 792-802), »Über die moderne Kolonisationstheorie«, mit einem ähnlichen Argument auseinander. Ein britischer Kolonialpolitiker wie E.G. Wakefield, der das Ackerland in den Kolonien (insbesondere Australien) zu überhöhten Preisen verkaufen will, um sicherzustellen, dass die Kapitalisten dort genug billige Arbeitskräfte haben, kann wohl kaum behaupten, dass die Teilung der Menschen in Kapitalisten und Proletarier „das Resultat freiwilliger Verständigung und Kombination“ (MEW 23, S. 795) ist. Marx bietet hier eine Wiederauflage von Humes Kritik an Locke, nur das bei Marx die finanzielle Hürde, welche einen armen Bauern oder Handwerker daran hindert, auszuwandern, nicht unvermeidlich ist, sondern das bewusste Resultat der britischen Kolonialpolitik. Wakefields Theorie beinhaltet insofern tatsächlich einen „contrat social ganz origineller Art“ (ebd., S. 794). Mit dem Wissen um den Kontraktualismus des 17. Jahrhunderts lässt sich erschließen, welchen Ziel Marx mit diesem Kapitel verfolgt. Natürlich rechtfertigt Locke den Kolonialismus; wenn man dies aber als Anlass nimmt, sich mit einem solchen ‚bürgerlichen Denker‘ überhaupt nicht zu beschäftigen, versperrt man sich einen wichtigen Zugang, um auch Marx verstehen zu können.
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