Zur Debatte um den EU-Binnenmarkt

Ob (und in welcher Form) der Brexit jetzt kommen wird, ist immer noch nicht klar. Ich gehe zwar davon aus, dass er kommen wird, aber auch davon, dass es wirtschaftlich besser wäre, wenn er nicht käme, sowohl für Großbritannien als auch für die dann verbliebenden EU-Länder. Auf Spiegel Online findet sich ein Artikel, der eine sehr konkrete Prognose macht, wie die durchschnittlichen Einkommensverluste durch einen harten Brexit ausfallen würden. Diese Prognose ist zwar für jeden verständlich, aber die wer nicht zufällig einen Hochschulabschluss in Volkswirtschaftslehre hat, wird nicht in der Lage sein, zu verstehen, wie man sowas genau ausrechnen würde. Wenn die Politik sich nur auf solche, von der Bevölkerung nicht nachvollziehbaren, Prognosen stützt, dann gerät sie in jenes Dilemma, welches das verstärkte Aufkommen des Populismus erst ermöglicht hat. Für die Wissenschaft selbst mag das kein Problem sein, wenn sie nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten verständlich ist. Aber in einer Demokratie sollten die politischen Entscheidungen für alle Menschen nachvollziehbar sein; wenn politische Entscheidungen dann mit dem Verweis auf eine für die Allgemeinheit unverständlich Wissenschaft begründet werden, sind solche Technokratien mit jenen vormodernen Gesellschaften vergleichbar, in denen Propheten und Mystiker einen Einfluss auf die Politik hatten.

Da ich diese technokratische Einstellung ablehne, hier also eine (hoffentlich allgemeinverständliche) Erklärung, wieso es wirtschaftlich von Vorteil ist, wenn ein Land Mitglied der EU ist. Die habe ich mir natürlich nicht selbst ausgedacht, sondern aus einem Artikel vom 2. März von Ulrike Hermann in der taz entnommen. Hermann hat schon einen größeren intellektuellen Anspruch als viele andere JournalistInnen. Das letzte Buch von ihr heißt Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie – oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können. Für den zitierten Beitrag braucht sie aber nur einen einzigen wirtschaftstheoretischen Fachbegriff, den sie aber ganz gut erklärt:

Ein zentrales Phänomen im Kapitalismus sind die Skalenerträge: Die Produktion von Gütern wird umso billiger, je mehr Stück man herstellt. Für vier Autos lohnt sich kein Industrieroboter; bei 10.000 Autos machen die Maschinen jedes einzelne Auto günstiger. Am effizientesten ist es natürlich, wenn die Produkte immer gleich sein können – was aber voraussetzt, dass die technischen Vorschriften in möglichst vielen Ländern identisch sind. Diese Harmonisierung leistet die EU: Im gesamten Binnenmarkt gelten die gleichen Regeln, ob im Umwelt-, Daten- oder Verbraucherschutz.

Dies unterscheidet den Binnenmarkt der EU insbesondere von den Freihandelsabkommen; der EU-Binnenmarkt ist viel mehr. Ein Beispiel dafür ist an dieser Stelle angebracht. Ein Artikel der ZEIT vom Oktober 2018 benutzt den Einbau einer Kurbelwelle in den BMW Mini als Beispiel für die Spezialisierung von Betrieben auf dem Binnenmarkt der EU. Ein Betrieb (in Nogent in Frankreich) hat sich darauf spezialisiert, Kurbelwellen zu gießen, der nächste (nahe Birmingham in England) diese zu Fräsen, der nächste (in Steyr in Österreich) sie in einen Motor einzubauen, und erst im letzten Schritt wird dieser Motor (wieder in England, diesmal bei Oxford) in ein Auto eingebaut. Dieses ganze hin- und hergefahre ist aus ökologischer und verkehrspolitischer Sicht sicherlich nicht optimal (vgl. dazu diesen Artikel der FAZ) – aber es ist aus der sich von BMW kosteneffektiver, als alles ein einer Betriebsstelle zu produzieren.  Wenn sich auf diese Weise verschiedene Waren günstiger produzieren lassen, kommt das letztliche allen Konsumenten zu Gute.

An dieser Stelle ergab sich in der Diskussion auf unserer Veranstaltung Wie weiter mit Europa? am Freitag den 22.3. die Frage, wer denn überhaupt noch arbeiten wird, wenn also effektiv durch Maschinen produziert wird.  Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, und m.E. eines der wichtigsten Argumente für ein Grundeinkommen.  Natürlich kann es sein, dass die Arbeitskräfte, die dann nicht mehr in der Produktion gebraucht werden, statt dessen im Dienstleistungssektor genug Arbeit finden – es kann aber auch sein, dass uns buchstäblich die Arbeit ausgeht und wir eine Gesellschaft brauchen, die ihre Mitglieder auch dann gut versorgt, wenn keine Arbeit da ist.

Aber zurück zu der Debatte über die EU und dem Artikel von Ulrike Hermann. Außer den Benelux-Staaten hatte, so Hermann, aber keines der ursprünglichen Mitgliedsländer dieses wirtschaftspolitische Potential erkennt – was das Missverständnis erklärt, dass sie EU eine ‚Friedensunion‘ sei.

Der Binnenmarkt ist daher ein seltsames Konstrukt: Er ist aus politischen Gründen entstanden, obwohl er ökonomische Ziele verfolgt. Diese verwirrte und verwirrende Entstehungsgeschichte erklärt auch, warum der Binnenmarkt bis heute als „Friedensprojekt“ durchgeht, obwohl sich das Alltagsgeschäft um Abgasnormen für Dieselfahrzeuge dreht.

Zumindest mich überzeugt Hermanns Argument für den Binnenmarkt. Man sollte dann allerdings noch weiter gehen, und jene ‚rollende Lagerhalle‘ auf der Autobahn verkleinern. Die LKWs, die jene Zwischenprodukte, die zwischen den verschiedenen Fabriken in Europa transportieren, und die Staugefahr auf den Autobahnen erhöhen, sollten durch Güterzüge ersetzt werden. Dafür müssen wir aber die Infrastruktur der EU viel weiter integrieren, dies wäre ein politisch aufwendiges Reformprojekt. Allerdings geht der Reformbedarf in der EU weit über eine bessere inter-europäische Infrastruktur hinaus.

Natürlich wollen Kapitalisten möglichst preisgünstig produzieren um mehr Profit zu machen. Deswegen gilt der Kapitalismus auch seinen Gegner als sehr innovationsfreudig – diejenigen Unternehmen, die am kosteneffektivsten produzieren, setzen sich am Markt durch, weswegen es einen großen Bedarf an Innovationen gibt, die genau dies ermöglichen. Am leichtesten lässt sich jedoch oft Profit machen, wenn ein Kapitalist die Arbeiter gering bezahlt und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Dies erklärt, wieso durch die Globalisierung viele Arbeitsplätze in der Produktion nach Asien verlagert wurden, wo die Arbeitsschutzgesetze deutlich schwächer sind und die niedrigen Löhne in Industriestätten den ArbeiterInnen immer noch ein besseres Leben ermöglichen als in den armen Dörfern auf dem Land.

Das betrifft natürlich nicht nur die relative Armut den Menschen in Asien, sondern auch das ‚Wohlstandsgefälle‘ z.B. zwischen Deutschland und Osteuropa. In einem bekannten Bespiel führt dies dazu, dass nicht nur die Warenproduktion, sondern auch deren Distribution aus Deutschland heraus nach Polen und Tschechien verlagert wird. In einem Artikel der ZEIT werden die Löhne und Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen mit denen bei Amazon in Deutschland verglichen:

In der Stunde bekommen Mitarbeiter in einem polnischen Amazon-Zentrum zwischen 18,50 und 24,50 Złoty, umgerechnet zwischen 4,30 und 5,69 Euro – gerade einmal rund die Hälfte der Stundensätze zwischen 10,78 und 11,62 Euro, die Versandmitarbeitern an einem deutschen Standort gezahlt werden. Gearbeitet wird auch an Sonntagen, ohne Zuschlag – in Deutschland ist das untersagt.

Einerseits organisieren sich auch die ArbeiterInnen in Polen gegen die schlechteren Arbeitsbedingungen, was aber in Polen aufgrund eines anderen Streikrechts schwieriger ist als in Deutschland. Anderseits versucht Amazon offenbar gezielt, Lieferungen in Deutschland von seinen Standorten in Polen aus erledigen zu lassen. Von 1000 Büchern an dem Standort in Poznań versandt werden, sind, dem Artikel zu Folge, 999 auf Deutsch.

Auf diese Weise gelingt es Amazon auch, sich gegen Streiks bei Arbeitskämpfen in Deutschland weitgehend zu immunisieren. Ein Artikel des MDR beschreibt dies so.

Fallen bei Amazon hunderte Mitarbeiter aus, dann wird das Buch für die Tochter oder die Vase für die Schwiegermutter eben nicht aus dem bestreikten, sondern aus einem anderen Lager geliefert. Auch aus Polen oder Tschechien.

Das Problem besteht aber nicht nur darin, dass durch den freien Handel innerhalb Europas die Mitarbeiter der verschiedenen Standorte eines Unternehmens gegen einander ausgespielt werden können. Das Problem besteht auch darin, dass jene billigen Arbeitskräfte in Osteuropa gezielt angeworben werden, um Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Das vielleicht am besten bekannte Beispiel dafür aus Deutschland sind die Schlachthöfe in der Region Oldenburg. Telepolis berichtete in einem Artikel von 2005 bereits darüber. Z.B. über Briefkastenfirmen in Rumänien werden Menschen von dort nach Deutschland gelockt. Ihnen wurde falschen Versprechen gemacht, was Löhne und Arbeitsbedingungen betrifft, aber wenn man sich die damalige wirtschaftliche Lage in Rumänien anschaut, ist es sicherlich keine Überraschung, wenn sie grundsätzlich bereit sind, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten als Deutsche.

Dieses Lohndumping hat dazu geführt, dass sich die Löhne halbiert haben – von ca. 4000 DM im Monat für sehr anstrengende, aber ungelernte Arbeit, zu ca. 1000 € im Monat.  Im schlimmsten Fall wurde den in Lagern untergebrachten rumänischen Arbeitern der Lohn vorenthalten, was zu einem Streik führte, bei dem Schläger gegen die Streikenden eingesetzt wurden; zumindest einige der Hintermänner sind verurteilt worden.

Tatsächlich gilt Deutschland hier, relativ z.B. zu Dänemark, als „Billiglohnland“; Telepolis zitiert jemanden dahingehen, „dass sich die dänische Nahrungsmittelgewerkschaft öffentlich darüber beklage, dass die dänischen Fleischkonzerne große Teile ihrer Produktion ins benachbarte ‚Billiglohnland‘ Deutschland verlagern.“ Das Thema war öfter in den Medien, aber ich habe das Interview mit einem jener LKW-Fahrer, die dann die Schweinehälften von Dänemark nach Oldenburg fahren, und das verarbeitete Schweinefleisch von Oldenburg zurück nach Dänemark, so schnell nicht wieder gefunden.

Es gibt Grund zu der Annahme, dass sich die Situation zumindest etwas verbessert hat, seitdem 2015 der Mindestlohn eingeführt wurde, den DIE LINKE schon lange gefordert hat. Aber 9,19 € die Stunde sind natürlich zu wenig, erst recht für anstrengende körperliche Arbeit wie auf einem Schlachthof.

Dieses Lohndumping ist nach wie vor ein massives Problem, das aus dem europäischen Binnenmarkt resultiert. In dieser Hinsicht ist der Kritik an der EU als ‚neoliberales Projekt‘ durchaus statt zu geben. Was ich an dieser Kritik jedoch nicht verstehe, wieso der gleiche Klassenkampf, den die KritikerInnen des Neoliberalismus oft fordern, nicht auch auf europäischer Ebene möglich sein sollte. Dass sich die Arbeitskräfte in den körperlich anstrengenden und schlecht bezahlten Berufen organisieren und, sowohl durch Streiks als auch vermittelts parlamentarischer Politik bessere Löhne und Arbeitsbedingungen durchsetzt, ist ja nun keine neue Idee. Diese Strategie war im Wohlfahrtskapitalismus der 1950er bis 80er größtenteils erfolgreich war, die Frage ist nur, wieso es dann nicht gelang, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse im der dann von Reagan und Thatcher eingeleiteten Periode des Neoliberalismus zu verteidigen. Der Bedarf an einer Reform (oder an einer Transformation!) der EU ist offensichtlich. Ich denke aber, dass über koordinierte Mindestlöhne und Arbeitsschutzbestimmungen, oder über eine bessere Koordination der europäischen Gewerkschaften,  es durchaus möglich ist, solche Veränderungen zu bewerkstelligen, und dass so die Vorteile des EU-Binnenmarktes genutzt werden können, ohne das die Arbeitskräfte der verschiedenen EU-Länder gegeneinander ausgespielt werden.

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