Im Rat und in den Ratsausschüssen der Stadt Gehrden liegen derzeit drei Anträge für mehr Bürgerbeteiligung vor. An Antrag der Ratsgruppe Grüne/Linke zur Änderung der Geschäftsordnung; Ein Antrag der Ratsgruppe Grüne/Linke für einen Bürgerhaushalt und ein Antrag der CDU-Fraktion für digitale Bürgerbeteiligung. Über den letztgenannte Antrag würde am 4.März in der Calenberger Zeitung berichtet. Ich werde in dem Artikel so zitiert, dass ich den Antrag der CDU begrüßte, was im allgemeinen auch stimmt, aber dann im Detail doch anders aussieht: Was ich gesagt hatte, war, sinngemäß: Eine großartige Idee, aber… – und dann kam meine Kritik.
Einen wichtigen Kritikpunkt will ich an dieser Stelle noch nachreichen: Der CDU-Antrag vermischt zwei Dinge: ‚digitale Bürgerbeteiligung‘ einerseits und ‚E-Government‘, also die Vereinfachung von Amtsgänge über das Internet, andererseits. Das zweite ist sicherlich auch interessant, aber vielleicht dann doch aktuell nicht so wichtig. Ich wüsste zumindest nicht, dass sich in letzter Zeit jemand beschwert hätte, dass die Wartezeit im Rathaus zu lang sei oder die Öffnungszeiten nicht passend seien.
Das zweite hingegen ist wichtig: Der Staat ist in einer Demokratie nämlich nicht nur das Verwaltungsorgan, welches bestimmte Funktionen bereitstellt, die eine Gesellschaft nun mal so braucht, sondern die Bürgerinnen und Bürger entscheiden mehrheitlich, was der Staat bereitstellen soll. Ein konkretes Beispiel ist hier besser als lange allgemeine Ausführungen: Die Debatte um die öffentlichen Schwimmbäder in Deutschland, die anlässlich der Veröffentlichung der Zahl der Badetoten (Artikel von Zeit online) wieder kurz aufgeflammt ist. Die Gesellschaft als Ganzes kann sich entscheiden: Wollen wir sicherstellen, dass jedes Kind schwimmen lernen kann? Wenn wir das wollen, dann brauchen wir hinreichend viele, aus Steuergeldern subventionierte, Schwimmbäder, und Menschen, die sich in der DLRG dafür ehrenamtlich engagieren.
In diesem Fall ist das eine Entscheidung, die auf teilweise tatsächlich auf kommunaler Ebene fällt – nämlich dann, wenn eine Kommune sich entscheidet, ein Schwimmbad zu betreiben, auch wenn es defizitär ist. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass ich hier auf Seiten der DLRG bin, und eine entsprechende öffentliche Subventionierung von Schwimmbädern befürworten. Nun liegen inzwischen auch bessere Zahlen vor, mit welchen Kosten die Stadt Gehrden dafür rechnen kann, aber ich kann diese nicht öffentlich diskutieren, weil sie als vertraulich deklariert sind im öffentlichen Teil des Ratsinformationssystems nicht freigeschaltet sind.
Das ist das andere Kritikpunkt an dem Antrag der CDU. Wenn wir in Gehrden mehr Bürgerbeteiligung wollen, wieso sind dann der Sportstättenbedarfsplan, die Studienarbeit der HAWK zu kommunalen Verkehrskonzepten, oder die Ratsinformation von 20.2. 2019 sind nicht öffentlich zugänglich? Durchaus eine ‚großartige Idee‘ der CDU, aber die derzeitige Praxis sieht anders aus.
Mein erster Vorschlag für eine bessere Bürgerbeteiligung wäre also, die Vertraulichkeit von Unterlagen auf das sich der Sache nach ergebendem Niveau zu reduzieren. Mir ist nicht klar, wieso nicht alle Bürgerinnen und Bürger, die an dem Thema interessiert sind, z.B. nicht den Sportstättenbedarfsplan lesen sollten.
Nun war auch der Sitzung des Ausschusses, auf dem der genannte CDU-Antrag behandelt wurde, auch ein Bürger anwesend, der länger mit den anwesenden Politikern diskutierte. Dies ist vielleicht der angemessene Anlass, einmal darüber nachzudenken, wie so eine Ausschusssitzung abläuft.
Ratssitzungen und tendenziell auch Ausschusssitzungen dienen eigentlich nicht Diskussion, sie sind für die politische Debatte da. Der Unterschied ist folgender: Bei einer Diskussion wird davon ausgegangen, dass sich die anderen Teilnehmenden noch überzeugen lassen oder wenigstens Kompromisse möglich sind – bei einer Debatte stehen die Positionen im Wesentlichen fest, und es geht darum, diese möglichst gut zu präsentieren. Bei Diskussionen sind die Wortmeldungen kurz, spontan und es geht sehr viel hin und her, bei Debatten sind die Wortmeldungen lang, gut vorbereitet, und es geht der Reihe nach.
Entsprechend ist die Geschäftsordnung des Rates und der Ausschüsse der Stadt Gehrden auch für eine Debatte ausgelegt. §10 (6) sieht vor, dass jedes Ratsmitglied „grundsätzlich zu einem Beratungsgegenstand nur einmal sprechen“ darf. Man hat also eine einzige Wortmeldung, in der man alle Aussagen zu dem Thema unterbringen muss, die für einen wichtig sind. Immerhin sind in der Geschäftsordnung des Rates des Stadt Gehrden dafür 5 Minuten vorgesehen, was sehr großzügig ist – aus der LINKEN kenne ich sonst Zeitbegrenzungen von 2-3 Minuten. Wenn man tatsächlich diskutieren will, dann würde man natürlich nicht 3 oder 5 Minuten am Stück reden, sondern die anderen regelmäßig zu Wort kommen lassen, um überhaupt zu wissen, dass man in der Diskussion auf dem gleichen Stand ist.
Soweit dazu, was als Ablauf einer Ausschusssitzung vorgesehen ist. Aber was soll man machen, wenn das Publikum in einer Ausschusssitzung nur aus Dirk Wirausky von der Calenberger Zeitung, einem weiteren Ratsmitglied und einem einzigen interessierten Bürger besteht? (Der genannte Bürger heißt im übrigen Dirk Piche; nachdem er namentlich von der Calenberger Zeitung genannt wurde, denke ich, dass ich ihn hier auch namentlich nennen kann.)
Dies ist der Grund, warum wir mehr Bürgerbeteiligung brauchen. Es gibt in der Demokratietheorie Unterscheidung zwischen eher liberal-demokratischen Ansätzen und eher radikaldemokratischen. Das Ideal der liberalen Demokratietheorie ist parlamentarische Gremien, in denen gewählte Repräsentanten politische Entscheidung im Anschluss an eine öffentliche Debatte treffen; das Ideal der radikalen Demokratietheorie hingegen wäre eine Kommune, in der sich alle Bürgerinnen und Bürger auf dem Marktplatz treffen, und diese Entscheidungen gemeinsam treffen. Das letztere wäre natürlich wesentlich mehr Bürgerbeteiligung als derzeit möglich ist.
Dies ist aber eine eher akademische Unterscheidung. Sobald man mal anfängt, sich mit Kommunalpolitik zu beschäftigen, stellt man fest, dass es manchmal schon schwierig genug ist, genug interessierte Bürgerinnen und Bürger zu finden, um die Mandate in den Stadt- und Ortsräten zu besetzen. Selbst aus der Sicht der liberaldemokratischen Ansätze brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung.
Natürlich sollte frei diskutiert werden, wenn nur ein einziger Bürger auf einer Sitzung anwesend ist. Die Frage ist, wie wir dahin kommen, dass sich mehr Bürgerinnen und Bürger für die Sitzungen interessieren. Die öffentliche Debatte findet natürlich nicht nur auf der Sitzung selbst statt, sondern überall dort, wo Menschen über kommunalpolitische Themen diskutieren. Natürlich auch bei politischen Diskussionen auf dem Marktplatz oder in Cafés, aber insbesondere auch anhand der Zusammenfassungen der Sitzungen in der Calenberger Zeitung und gelegentlich im burgbergblick.
Und natürlich findet die Debatte auf im Internet steht; dieser Artikel hier z.B. erscheint nur im Internet. Zur Diskussion darüber gab es früher Internet-Foren, aber inzwischen hat ein bestimmtes soziales Netzwerk dies fast monopolisiert; da bin ich auch aktiv, aber nicht, weil es so gut ist, sondern weil dort die meisten anderen Leute aktiv sind, mit denen ich politisch diskutieren kann.
Damit lässt sich zum Abschluss dieses Blogbeitrages noch etwas zu der digitalen Form der Bürgerbeteiligung schreiben. Einerseits ist Zugang zum Internet nach wie vor nicht für alle Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich. Dirk Piche wies in der Debatte im Ausschuss für Soziales, Kultur und Sport darauf hin, dass dies insbesondere für die ältere Generationen gilt. Andererseits scheint der gedruckte Lokaljournalismus auch deswegen bedroht zu sein, weil sich das Mediennutzungsverhalten durch das Internet verändert hat. (Dies schreibt zumindest die ZEIT.) So lange aber weiterhin in den Zeitungen über Rats- und Ausschusssitzungen berichtet wird, scheint das zweitere aber kein so schwerwiegendes Problem zu sein. Digitale Bürgerbeteiligung ist daher kein Selbstzweck. Wenn es auf diese Weise gelingen kann, die Bürgerinnen und Bürger besser über Kommunalpolitik zu informieren (in Ergänzung zum Lokaljournalismus) oder man bestimmte Gruppen ansprechen kann, sich mehr zu beteiligen, dann sollte man das tun, aber mit dem weitergehenden Zweck, die Bürgerbeteiligung zu verbessern, nicht, weil man nach Möglichkeit alles digital haben muss.