Redeentwurf für die Programmdebatte zur Europawahl 2019:
Liebe Genossinnen und Genossen,
ich selbst zähle ja zu den Leuten, die gerne über Politik diskutieren; ich kann mir also schon ziemlich gut vorstellen, wie das im Wahlkampf laufen wird. Da kommt wahrscheinlich wieder jemand, in etwa: „DIE LINKE kann man ja nicht wählen.“ Wenn ich dann frage: „Warum?“, und überhaupt eine Antwort kriege, dann ist das vielleicht: „ – wegen eurer Position zu Russland!“
Und wenn ich dann noch auf die Nachfrage nach einem konkreten Beispiel eine Antwort kriege, dann wird die Diskussion interessant. Angenommen, der Wähler (oder die Wählerin) nimmt als Beispiel für die vermeinte Bedrohung durch Russland die Tatsache, dass Russland im Januar zwei atomwaffenfähigen Bomber über die Nordsee hat fliegen lassen, weswegen belgische und britische Abfangjäger aufgestiegen sind [ https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_83053778/nato-jets-fangen-russische-atombomber-ab.html ]. Ich würde an dieser Stelle durchaus zugestehen, dass die Nato-Staaten Abfangjäger zur Abschreckung gegen Russland brauchen – aber es muss halt nicht der teure Eurofighter oder extrem teure F-35 Lightning II sein, es reicht auch der preisgünstige schwedische Saab Gripen. Die US-amerikanische von F-35 soll, über seine gesamte Lebensdauer gerechnet, eine Billiarde US-Dollar kosten. Merkel und Marcon haben nun Juli erklärt, dass Frankreich und Deutschland auch einen Stealth-Fighter wie den F.-35 entwickeln soll. Ja sind die jetzt nur zu ambitioniert oder schon übergeschnappt? Diese Frage stell nicht nur ich, sie steht wörtlich im STERN? [ https://www.stern.de/digital/technik/stealth-fighter–warum-merkel-und-macron-einen-fighter-der-fuenften-generation-wollen-7538630.html ] Ich glaube nicht, dass die beiden auch nur eine Minute über die Kosten nachgedacht haben, und ob der wirklich gebraucht wird.
Im Fall der Konfrontation mit Russland reicht ein kurzer Vergleich der Militärbudgets, um zu zeigen, wieso Deutschland und Frankreich sicherlich nicht mehr Geld fürs Militär ausgeben müssen, und wahrscheinlich sogar was sparen können.
Russland hat 2017 knapp 70 Milliarden (in US-Dollar) für Rüstung ausgegeben, die USA 9x soviel, die anderen Nato-Staaten (ohne USA) 4x so viel. [ https://www.heise.de/tp/features/Muss-Deutschland-den-Ruestungshaushalt-auf-2-des-Bruttoinlandsprodukts-erhoehen-3935186.html ] Selbst wenn Russland mit der Statistik trickst oder eine wesentlich kosteneffektivere Rüstungsindustrie haben sollte als der Westen, lassen sich höhere Rüstungsausgaben von Deutschland oder Frankreich nicht mit der Abschreckung gegen Russland rechtfertigen. Da sollte mir eigentlich jeder zustimmen, dass solche hohen Rüstungsausgaben Blödsinn sind – und dann hoffentlich LINKE wählen, weil wir diese diesen Blödsinn nicht mitmachen.
Um an dieser Stelle einen Wähler oder eine Wählerin für DIE LINKE gewinnen zu können, muss ich nicht Schwarz-Weiß-Malerei betreiben und zu einer Fundamentalkritik der NATO und der USA ansetzen; das kann man natürlich auch machen, ist aber argumentativ anspruchsvoller und zeitaufwendiger. Wir haben auf jeden Fall ein Problem mit Rüstungskonzernen und Militärs, die gemeinsam daran arbeiten, den Regierungen weitgehend überflüssiges Rüstungsmaterial zu verkaufen – der berüchtigte militärisch-industrielle Komplex. Zumindest die USA haben auch ein Problem mit der Beeinflussung der Politik durch andere Konzerne, so z.B. durch den Öl-Konzern Chevron mit guten Beziehungen zu Familie Bush. Das kann man durchaus diskutieren – der letzte Golfkrieg war wegen der Kosten und der Verluste an Menschenleben sicherlich nicht im Interesse des US-amerikanischen Volkes, aber Chevron hat offenbar gut daran verdient. Ich bin sicher einige Genossinnen und Genossen hier würden das als Bestätigung der leninistischen Imperialismustheorie nehmen, nach der Demokratie nicht funktioniert und Regierungen im Kapitalismus durch „300 Kapitalmagnaten“ ferngesteuert werden.
Kann man natürlich machen, damit man überhaupt eine Chance hat, jemanden davon zu überzeugen, muss man dabei sehr fundiert argumentieren – und wenn ich mir die Texte anschaue, die hier in der LINKEN mit dem Stichwort ‚Imperialismus‘ versehen, veröffentlich werden, dann geht deren argumentativer Gehalt kaum über eine Reihe von Slogans hinaus. Ich habe nie nur einen Text gesehen, der z.B. die Verstrickungen von Bush mit der Ölindustrie hinreichend detailliert belegt, was aber nun eigentlich nicht so schwierig ist. Liebe Antiimperialisten – gebt euch doch bitte mehr Mühe auch Menschen außerhalb des linksradikalen Milieus zu überzeugen!
Die politischen Positionen in der Bevölkerung sind nun mal nicht in schwarz-weiß, sondern es gibt viele Grauschattierungen. Auch jemand der die marxistische Imperialismustheorie nicht teilt, wird DIE LINKE wählen, wenn er sich davon eine Reduzierung der Rüstungsausgaben erhofft – wenn ihm denn solche Frage überhaupt wichtig sind, und soziale und ökologische Probleme für die Wahlentscheidung nicht im Vordergrund stehen. Auf jeden Fall braucht man, um die verschiedenen Wählergruppen anzusprechen, ein differenziertes Wahlprogramm und Politiker-/innen, egal ob jetzt im Bundestag oder beim Wahlkampf in den Fußgängerzonen, die in der Lage sind, alle Positionen anzusprechen, die links von SPD und Grünen sind. Wenn man nur die äußert linken, kapitalismuskritischsten Positionen bedient, dann ergibt sich die Gefahr, dass man auch nur von denen gewählt wird, die diese Positionen teilen – und das sind in Niedersachsen nun mal keine 5% der Bevölkerung.
Diese Regionalkonferenzen dienen auch zur Verständigung über das Wahlprogramm zur Europawahl; bitte, liebe Genossinnen und Genossen, macht mir die politische Arbeit im Wahlkampf nach Möglichkeit einfacher, und gebt mir ein Wahlprogramm, dass diese Grauschattierungen berücksichtigt. Wenn ihr, wie bei der letzten Europawahl, wie einer Kritik an „imperialistischen Mächten“ dann bitte in einem kleinen Absatz irgendwo nach Seite 50 und nicht auf der ersten Seite; wenn wir Wahlen gewinnen wollen, dann muss die Kritik an den hohen Rüstungsausgaben deutlich zentraler positioniert werden.
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit