Was heißt Utopie? Wie der eine oder andere sicherlich weiß, schreibe ich nach wie vor an einer Dissertation in politischer Philosophie.
Ein Punkt, der in einschlägigen linken politischen Diskussionen (über Themen wie ‚Kommunismus‘ oder ‚Grundeinkommen‘) öfter auftaucht, ist das Argument, so etwas sei ‚utopisch‘ und nicht zu realisieren. Ein Zwischenergebnis meiner Lektüre im Rahmen der Promotion ist, dass sich dieser Begriff prominent bei dem britischen Philosophen des 18. Jh. DAVID HUME finden lässt. (Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Hume der erste war, der ‚utopisch‘ in diesem Sinn verwendet hat; er kann das Wort auch von jemand anders übernommen haben.)
Eine Definition von UTOPISCH findet sich in Humes Essay „Of Refinement in the Arts“ (Alternativtitel: „Of Luxury“) von 1752. Online ist er hier zu finden: http://www.davidhume.org/texts/pd.html, ich weiß gerade gar nicht, ob er überhaupt ins Deutsche übersetzt ist. Hume untersucht, als Moralphilosoph, Tugend und Laster, und natürlich fällt Luxuskonsum unter die Laster (man könnte vielleicht auch ‚Sünde‘ statt ‚Laster‘ schreiben, aber hier geht es nur um ethische Fragen – ohne die religiöse Dimension die ‚Sünde‘ implizieren würde). Das Beispiel was Hume selbst für Luxus verwendet, ist, französischen Wein („Burgundy“) oder Champagner zu trinken, anstelle von hellen oder dunklen Bier (S.270). Auf den britischen Inseln lässt sich Wein klimabedingt schlecht anbauen, damals handelte es sich um ein Luxusgut, das importiert werden musste. Wenn nun, zu Humes Zeit, alle Menschen in Großbritannien auf solchen Luxus verzichten würden, dann wäre, so Hume, ein utopischen Gesellschaftszustand erreicht, in welchem es keine Armut gäbe, und das einzige Elend aus (damals schlecht behandelbaren) körperlichen Krankheiten resultieren würde (S. 280).
Aber: Hume nennte diesen Gesellschaftszustand deswegen ‚utopisch‘, weil er davon ausgeht, dass er sich der Charakter und die Neigungen der Menschen nur durch eine Umgestaltung durch die Allmacht (d.h. Gott) so geändert werden könnte, dass sie auf die Laster verzichten. Luxuskonsum ist eigentlich etwas Schlechtes, weil die gleiche Arbeit, welche die Gesellschaft darauf verwendet, Luxusgüter für einige wenige zu produzieren, besser dafür verwendet werden könnte, lebensnotwendige Güter für alle zu produzieren. Das Beispiel, welches Hume dafür verwendet, zeigt allerdings, wie krass der Lebensstandard in Westeuropa seit dem 18. Jh. angestiegen ist. „Die gleiche Sorgfalt und Mühe, die zu Weihnachten eine Schale Erbsen aufbringen, würde einer ganzen Familie Brot für sechs Monate geben.“ (S.280) Bei dem Beispiel schwingt wahrscheinlich eine gewisse Ironie mit, weil Hume im nächsten Satz die Tugend mit gesundem Essen („wholesome food“) vergleicht, und das Laster mit Gift. Aber leider sind die Reichen nicht tugendhaft genug, um ihr Geld direkt den Armen zu geben; stattdessen kaufen sie Luxusgüter, die von den Armen produziert werden, so dass sich diese zumindest das tägliche Brot leisten könne, und vielleicht sogar eine Schale Erbsen zu Weihnachten. (Achtung, böse Ironie!) Tugend wäre besser als Laster, aber es ist immer noch besser, wenn die Armen Luxusgüter für die Reichen produzieren, und dafür ein Minimum an Lebensmitteln erhalten, als wenn sie verhungern müssten. Ohne die Nachfrage nach Luxusgütern würde ihre Arbeit gar nicht eingesetzt – dass dies nötig ist, zeigt nur, „dass es einen anderen Defekt in der menschlichen Natur gibt – wie Trägheit, Egoismus, Unachtsamkeit gegenüber anderen, für den Luxus, in gewissem Maß, eine Abhilfe bereitstellt.“ (S.280) In diesem Fall ist ein Laster, Luxuskonsum, das Gegengift für ein anderes Laster, den Mangel an Mitgefühl.
Damit kann ich erklären, was ich in der politischen Philosophie eigentlich mache. Anhand dieses Problems entwickelt Hume nämlich eine Unterscheidung zwischen Politik und Philosophie: Politiker und Beamte („Magistrate“) zielen nur auf das ab, was möglich ist. Die Reichen sind zu egoistisch, um ihren Wohlstand direkt mit den Armen zu teilen, und politisch lässt sich dies, so Hume, nicht ändern; da die Tugend fehlt, lässt sich ein Laster nur durch ein anderes Laster kurieren; da ist es doch besser, die Reichen geben ihr Geld für Luxus aus, deren Produktion den Armen zumindest etwas Einkommen verschafft. Wie die Gesellschaft hingegen beschaffen sein könnte, wenn die Menschen nicht so egoistisch wären, ist keine politische Frage mehr, sondern eine philosophische.
Jetzt ist die Frage: Trifft Humes Analyse zu? Es kann ja sein, dass es doch eine Möglichkeit gibt, den Gegensatz zwischen Armen und Reichen aufzuheben, und eine Gesellschaft ohne Armut zu schaffen. Das ist der Gegenstand der politischen Philosophie; diese beschäftigt sich mit der Frage: Ist das jetzt utopisch oder nicht? Ist eine bessere Welt möglich, oder sind die Menschen zu schlecht dafür? Die Unterscheidung zwischen einer politischen und einer philosophischen Frage hängt nämlich von Standpunkt hab. Je nachdem wie angenommen wird, dass Menschen tugend- oder lasterhaft sind, verschiebt sich der Bereich der Frage. Ich werde sie im Folgenden nicht beantworten können, aber ich kann darstellen, wie dies in der politischen Philosophie des 18. Jh. diskutiert wurde. Und außerdem, wieso ich diese Philosophie dem unter Linken weit verbreiteten Marx-Enthusiasmus vorziehe (aktuell, zu seinem 200 Geburtstag ist dieser ja mal wieder besonders stark).