Ein ‚Fest der (Nächsten-)Liebe‘?
Eigentlich habe ich nicht das Bedürfnis, Weihnachten zu feiern. Eine Freundin von mir hatte am 18. Dezember folgendes auf Facebook gepostet:
Seit September habe ich kein Geld mehr bekommen. Im August hat das Jobcenter meine Mietzahlungen eingestellt, weil sie meine Lohnabrechnung nicht lesen konnten. Im September wurde meine Wohnung fristlos gekündigt wegen fehlender Mietzahlungen. Ich warte täglich auf die Räumung. Die Krankenkasse bestätigt mir den Anspruch auf Krankengeld, darf das aber nicht auszahlen, weil das Jobcenter Ansprüche angemeldet hat, die aber auch auf Nachfrage der Krankenkasse nicht beziffern kann. Mein Kontostand ist 3.15€ […], ich habe weder Essen im Haus noch kann ich den Kindern einen Schokoladenweihnachtsmann unter den nicht vorhandenen Weihnachtsbaum stellen. […]
Frohe Weihnachten!
Was soll ‚Weihnachten‘, als Fest der Liebe, überhaupt sein? Sicherlich kann dabei nicht ‚Liebe‘, im in jenem konsumorientierten Sinn gemeint sein, welcher durch die Werbung impliziert wird – dass man seiner Familie (und seiner Partnerin) entsprechend viele Geschenke macht. Wenn man Weihnachten als christliches Fest ansieht, dann braucht diese Frage allerdings nicht sonderlich kompliziert sein. Schließlich bezieht sich das christliche Verständnis von Nächstenliebe nicht nur auf Familie und Freunde, sondern ausdrücklich auch auf Fremde. Die Parabel vom barmherzigen Samariter ist in dieser Hinsicht eindeutig.
Zumindest für mich war diese Botschaft des Christentums immer klar, seitdem ich an einem Martinstag in den frühen 1990ern bei einem Gottesdienst in der katholischen Kirche war. (Meine Mutter ist katholisch getauft, mein Vater evangelisch-lutherisch, folglich waren meine Geschwister und ich als Kinder sowohl bei katholischen als auch bei lutherischen Gottesdiensten). Für diesen Gottesdienst hatte die Kirche nämlich süße Hörnchen organisiert (von der Bäckerei Weiß?), allerdings nicht ganz so viele, wie Kinder bei dem Gottesdienst waren. Alle Kinder wurden dann aufgefordert, ihr Hörnchen mit einen anderen Kind zu teilen, damit jedes Kind etwas hat. Das hat auch wunderbar geklappt, allerdings hatten die Organisatoren des Gottesdienstes wohl die Zahl der anwesenden Kinder etwas höher eingeschätzt – auf jeden Fall hatte ich dann noch ein halbes (oder ganzes?) Hörnchen übrig, aber es war kein anderes Kind mehr da, welche noch kein halbes Hörnchen hatte – also hab ich es dann behalten und selbst gegessen.
Natürlich war mir in dem Moment klar, dass es genug Kinder auf der Welt gibt, die nicht genug zu essen haben (kann sein, dass dies einer der Inhalte der Predigt war), aber ich hatte in der Situation natürlich nicht die Möglichkeit, das, was ich selbst im Überfluss hatte, mit einem bedürftigen Menschen zu teilen. Insofern hatte der Gottesdienst sein pädagogisches Ziel erreicht, mir nämlich die Vorstellung von Nächstenliebe zu vermitteln. Denn dass ich verpflichtet bin, das, was ich besitze, mit anderen zu teilen, wenn ich sie dadurch vor Hunger und Kälte schützen kann, war mir danach klar. Schließe hatte ich für Matten Matten Meeren, wie es in Niedersachsen heißt, den Text von ‚Sankt Martin‘ auswendig gelernt, der seinen Mantel mit einem Obdachlosen geteilt hat.
Nächstenliebe als öffentliche Tugend
Wie ist dann, angesichts des ‚christlichen Wertes‘ der Nächstenliebe der zitierte Fall zu beurteilen? Es kann doch nicht angehen, dass eine alleinerziehende Mutter so arm ist, dass sie nicht in der Lage ist, mit ihren Kindern Weihnachten zu feiern. Ich habe ziemlich viel darüber nachgegrübelt, und als ich dann vor ein paar Tagen zufällig dem Pastor begegnete, als ich (auf dem Weg zum Einkaufen) an der katholischen Kirche vorbeiging, habe ich ihn deswegen angesprochen. Ich habe ihm in zwei Sätzen den Fall geschildert, und gefragt, wie er als Christ damit umgehen würde. Tatsächlich war er auch davon schockiert, und meinte dann, dass meine Bekannte sich ggf. an ihn wenden könne, wenn sie etwas brauchen würde.
Nun wohnt sie nicht im Landkreis Hannover; und glücklicherweise hat sie auch ein soziales Netzwerk (dafür ist Facebook ja schließlich auch da), welches ihr besser helfen kann als ich. Sie hat gestern über Facebook auch mitgeteilt, dass sie inzwischen einen Weihnachtsbaum hat. Falls nötig würde ich ihr natürlich auch helfen, obwohl ich selbst nicht wirklich viel habe.
Aber das ist nicht der wichtige Punkt: Nächstenliebe ist keine private Tugend, sondern eine öffentliche. Der Staat ist nicht bloß ein Zusammenschluss der Menschen, um Sicherheit für ihr persönliches Eigentum zu erhalten, sondern für alle gemeinsamen Interessen – und das Interesse, anderen Menschen zu helfen, zählt dazu! Wenn man nicht davon ausgehen sollte, dass es so etwas wie eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit gibt, welche durch die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft geteilt wird, dann braucht man auch kein Martinsgottesdienst mehr, der Kindern vermitteln soll, dass es wichtig ist, das, was man besitzt, mit denen zu teilen, die nichts haben.
Eigentlich sollte kein Mensch in Deutschland so arm sein, dass er oder sie nicht Weihnachten feiern kann. Dafür gibt es einen Sozialstaat, und es gibt das Bekenntnis im Grundgesetz zu der Deklaration der Menschrechte, welche in Artikel 25 ein „Recht auf einen angemessenen Lebensstandard“, welcher „seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet.“
Zum Wohlbefinden sollte die Möglichkeit, Weihnachten zu feiern (zumindest mit einem Schokoweihnachtsmann für jedes Kind) doch wohl dazugehören. Aber seit der sog. HartzIV-Reform in Deutschland zweifele ich daran, ob diese Vorstellung von sozialen Gerechtigkeit, den sozialen Grundrechten in Artikel 25 der Menschenrechte, in der Gesellschaft noch vorhanden ist. Ich hatte eine Diskussion mit einer anderen Bekannten darüber, ob in diesem Fall der entsprechende Sachbearbeiter beim Jobcenter, welcher das Geld für die Miete gekürzt hat, unter Druck stand, zu sparen, oder einfach nur so sadistisch veranlagt war. Auf jeden Fall darf so was eigentlich nicht sein.
Daher war es für mich sinnvoll, den Pastor auf das Thema anzusprechen. Denn auch wenn er in dem Moment nur seine private Hilfe angeboten hat, war es für mich wichtig zu wissen, dass die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zumindest grundsätzlich geteilt wird.
Trotzdem würde ich um Verständnis dafür bitten, dass ich nicht in der Stimmung dafür bin, Weihnachten zu feiern. Der Sinn eines Festes der Liebe in einer Gesellschaft der sozialen Kälte erschließt sich mir nicht.
Frohe Weihnachten 2017.