Die Machtverhältnisse im Stadtrat Gehrden

Die Macht liegt bei der Ratsmehrheit:

Vielleicht werden sie sagen, dass die Frage, ‚Wer hat in Gehrden die Macht?‘, zu einfach ist, schließlich ist doch jedem klar, wer der Bürgermeister ist, nämlich Cord Mittendorf von der SPD.  So einfach ist es jedoch nicht. Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin wird zwar direkt gewählt, hat jedoch nur in seltenen Fällen die Macht. Die SPD-Politikerin und ZEIT-Journalisten Susanne Gaschke, die kurzeitig Oberbürgermeisterin von Kiel war, beschreibt dies folgendermaßen:

Nach dem Krieg hatten die Briten für die Städte in Norddeutschland eine Magistratsverfassung nach ihrem heimischen Vorbild eingeführt: Das heißt, die Bürger wählten Vertreter ins Rathaus; diese Ratsversammlung wählte eine hauptamtlichen (Ober-)Bürgermeister […] Der Bürgermeister war hier nur Erster und Gleichen. […]

Doch die Moden änderten sich, und es wuchs der Wunsch, Demokratie direkter und bürgernäher zu gestalten. […] Es war die damals in Schleswig-Holstein regierende SPD, die die Direktwahl der hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte durchsetze […]

Egal schien den Verantwortlichen dabei, wie die Direktwahl zu alten Rest der Verfassung passen würde, und ob sich damit arbeiten ließ.

Susanne Gaschke: Volles Risiko. Was es bedeutet, in die Politik zu gehen; S.69f

Selbst wenn der Bürgermeister (die Bürgermeisterin) einer Partei angehören sollte, die über 50% der Sitze im Stadtrat verfügt, wäre er oder sie immer noch darauf angewiesen, sich mit den Mitgliedern seiner (ihrer) Fraktion gutzustellen. Die Zeiten, in denen, je nach Region, SPD oder CDU in Gemeinden absolute Mehrheiten erringen konnten, sollten jedoch schon seit den 80er Jahren vorbei sein, auch wenn auf Anhieb keine statistische Auswertung dazu zu finden war.

In der Mehrheit der Fälle, in denen keine Fraktion über 50% der Sitze hat, ist der Bürgermeister von einem ‚Koalitionspartner‘ abhängig. Anders als auf Landes- oder Bundesebene gibt es bei Stadt- und Gemeinderäten jedoch oft gar nicht die Notwendigkeit einer Koalitionsvereinbarung, dies lässt sich auch ohne schriftlich festgehaltene Absprechen regeln.

Um also rauszufinden, wie mächtig der Bürgermeister tatsächlich ist, braucht man als erstes einen Blick auf die Sitzverteilung; für Gehrden ist diese bekannt, und wäre u.a. im Burgbergblick zu finden.  Bei der gegeben Sitzverteilung wäre rein rechnerisch auch Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Gelb denkbar, aber inhaltlich sind diese natürlich nicht denkbar. Daher bleibt nur eine ‚große Koalition‘, wobei dies in Anführungsstrichen zu setzen ist – denn einen expliziten Koalitionsvertrag gibt es natürlich nicht.  Vielmehr koordinieren sich die Fraktionen von SPD und CDU miteinander; die FDP arbeitet dabei mit, obwohl sie rechnerisch für eine Mehrheit nicht erforderlich wäre.

In Gehrden muss also Bürgermeister Cord Mittendorf zumindest Rücksicht auf die CDU-Fraktion nehmen. Er muss jedoch wahrscheinlich auch Rücksichtig auf die SPD-Fraktion nehmen – denn nur weil er selbst als Bürgermeister der SPD angehört, heißt dies noch lange nicht, dass die SPD- Fraktion seiner Meinung sein muss.

Die Frage der Fraktionsdisziplin

Hier stellt sich die hypothetische Frage, ob es eigentlich möglich wäre, dass jemand in Personalunion Bürgermeister(in) und Fraktionsvorsitzende(r) der eigenen Partei im Stadtrat sein kann. Die eigentliche Macht im Stadtrat liegt bei den Fraktionen, welche die Ratsmehrheit bilden, und wenn sie daher überhaupt bei einzelnen Personen zu verorten ist, liegt sie bei den jeweiligen Fraktionsvorsitzenden. Im Stadtrat Gehrden ist dies bei der CDU Thomas Spieker, laut Homepage der CDU ist er einstimmig gewählt worden. Für die SPD ist es Henning Harter; der Burgbergblick gibt zwar nicht sein an, ob er von der SPD-Fraktion einstimmig gewählt worden war, aber dass er bei der Kommunalwahl „über 1.103 persönlichen Stimmen“ erhalten habe.

Ob ein Fraktionsvorsitzender einstimmig gewählt wurde oder nicht ist deswegen interessant, weil es ein Anzeichen dafür sein kann, wie weit er seine Fraktion hinter sich hat. Rein formal besteht eine Fraktion aus Frauen und Männern, die intern gleichberechtigt sind. Nur weil der Fraktionsvorsitzende eine bestimmte Meinung hat, heißt dies nicht, dass man (oder frau) intern in der Fraktion keine gegensätzliche Meinung haben kann. Dies geht bekanntlich soweit, dass Abgeordnete einer Fraktion nicht verpflichtet sind, in dieser zu bleiben. Ratsmitglieder, sowie Landtags- und Bundestagsabgeordnete, können rechtlich nicht daran gehindert werden, ihre Fraktion zu verlassen, das einzige, was einer Partei in solche Fällen übrig bleibt, ist der Parteiausschluss, und eine solche Person nicht wieder aufzustellen. Je nachdem, wie viel Zeit in der Legislaturperiode noch verbleibt, haben Abgeordnete, die sich mit der Position ihrer eigenen Fraktion unwohl fühlen, allein durch die Androhung mit einem Fraktionsaustritt ein nicht unwesentliches Verhandlungspotential – aber nur sehr wenige Menschen sind bereit, es auf derartige Konflikte ankommen zu lassen.

Exkurs: Deswegen war nach der Bundestagswahl 2013 Rot-Rot-Grün keine realistische Option; die Mehrheit war zu knapp. Unabhängig von allen inhaltlichen Fragen hätte es nur 3 Abweichler gebraucht, um die Koalition zu Fall zu bringen. Vergleichbares gilt für Gehrden: Unabhängig von allen inhaltlichen Fragen wären Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Gelb schon durch 1 bzw. 2 Abweichler zu verhindern, weswegen sie politisch durchaus riskant wären, falls die inhaltlichen Differenzen jemals überwunden werden könnten. 

Bei der Kommunalwahl 2016 in Gehrden hat sich dies anhand des Einzelwahlvorschlag Schultz gezeigt. Meines Wissens ist jener Harald Schulz, der als Einzelbewerber für den Stadtrat angetreten ist (Calenberger Zeitung)  derselbe Harald Schultz, der jahrzehntelang für die CDU in Redderse und Gehrden kommunalpolitisch aktiv war (Calenberger Zeitung) Dann liegt der Verdacht nahe, dass es innerhalb der CDU in Redderse zu einem Konflikt gekommen war, wobei offenbar nichts über die Details desselben nach außen gedrungen ist.

Solche Konflikte sind zu erwarten: Inhaltliche Differenzen sind oft auch persönliche Differenzen. Natürlich würde jeder Kommunalpolitiker gerne genau wissen, was das Beste für seine Kommune (oder zumindest seine WählerInnen) ist, und wenn ein anderer Politiker in der gleichen Fraktion dazu eine andere Meinung hat, lässt sich dies leicht als ein persönlicher Angriff verstehen. Bei weitem nicht alle Menschen sind in der Lage, politische Differenzen als „wohlbegründete Meinungsverschiedenheiten“ (Rawls) wahrzunehmen und nach Kompromissen zu suchen. Es kommt also zu Machtkämpfen, die nicht unbedingt fair ausgetragen werden müssen. Die zitierte Susanne Gascke (Wikipedia) ist ein gutes Beispiel dafür. Nachdem sie sich bei der Auswahl der/des SPD-Kandidatin/en für die Oberbürgermeisterwahl in Kiel gegenüber dem von SPD-Ministerpräsident Torsten Albig favorisierten Ralf Stegner durchgesetzt hatte, und dann auch zur Kieler Oberbürgermeisterin gewählt wurde, machte sie im 8. Monat ihrer Amtsperiode einen fatalen Fehler, der mit mehr politischer Erfahrung wohl nicht passiert wäre. Sie sah ihren Amtsvorgänger, den erwähnten Torsten Albig, aber nicht zu Unrecht in der hauptsächlichen Verantwortung; die öffentliche Konfrontation eskalierte, bis zur Einleitung eines Verfahrens wegen Untreue durch die Staatsanwaltschaft, woraufhin sie zurück trat. Das Verfahren wurde 7 Monate später eingestellt.

CDU, SPD und FDP ziehen am gleichen Strang – aber auch in die richtige Richtung?

Zugegeben, die Ausführungen zu politischen Machtkämpfen sind in diesem Umfang nicht nötig, um die Machtverhältnisse im Stadtrat Gehrden zu verstehen – und der andere dargestellte Sachverhalt, über die Bedeutung der Ratsmehrheit, ist für Menschen, die sich bereits ein wenig mit Kommunalpolitik auskennen, trivial. Dennoch soll dieses Hintergrundwissen nicht vorausgesetzt werden; und für das Verständnis des Haushaltsbeschlusses vom März 2017 ist es erforderlich.

Darüber, dass die Ratsmehrheit von CDU, SPD und FDP gemeinsam den Haushalt abgeklärt hatte, bevor er beschlossen wurde, wurde im (Burgbergblick) und in der (Calenberger Zeitung) ausführlich berichtet. Wahrscheinlich wäre es ohne derartige Gespräche auch nicht gegangen: Zumindest SPD und CDU hätten sich irgendwie koordinieren müssen, um überhaupt den Haushalt beschließen zu können.

Dass sich die FDP hatte sich den dafür notwendigen Gesprächen angeschlossen hat, impliziert allerdings, dass die SPD in Gehrden eher FDP-nah ist. Wieso? Für einen Ratsbeschluss sind nur die Stimmen der CDU und SPD-Fraktionen erforderlich, die offenbar auch über eine recht hohe Fraktionsdisziplin verfügen: wenn es hart auf hart käme, könnte sich die FDP nicht gegen CDU und SPD durchsetzen. Die FDP hat also nur dann einen guten Grund mitzuarbeiten, wenn das, was SPD und CDU faktisch beschließen wollen (also nicht unbedingt das, was in ihren Wahlprogrammen steht), ihren eigenen Positionen nahe kommt.

SPD, CDU und FDP ziehen also am gleichen Strang, wie es in der Berichterstattung zum Haushaltsbeschluss irgendwo hieß. Aber auch in die richtige Richtung? Bestimmte Sachen, die sie beschließen, sind, zumindest aus linker Sicht, politische Fehler. Das krasseste Beispiel ist der fehlende soziale Wohnungsbau im Neubaugebiet Langes Feld. Das war auch der Grund, sich mal die Machtverhältnisse im Stadtrat und die Zusammenarbeit zwischen CDU und SPD näher anzuschauen: Ich greife Henning Harter (SPD) wegen dem fehlenden sozialen Wohnungsbau an, und Thomas Spieker (CDU) verteidigt ihn – so etwas fällt doch irgendwann auf.

Es könnte sein, dass es deswegen in der SPD Gehrden angefangen hat, zu rumoren. Es ist auffällig, dass in dem gleichen Artikel in der Calenberger Zeitung, in dem der darüber berichtet wird, dass Hennig Harter nicht mehr als Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Gehrden kandierte, seine Nachfolgerin „Entwicklung von bezahlbaren Wohnungen als [eine der] wichtige Aufgaben des SPD-Ortsvereins“ bezeichnet.

Die Bürgerinnen und Bürger soll ja offenbar glauben, dass die SPD das Thema ‚Sozialer Wohnungsbau‘ bei der Diskussion über das Neubaugebiet schlichtweg vergessen hatte. Wenn dies tatsächlich so ist, dann ist es sicherlich besser, wenn sich Henning Harter jetzt auf die Fraktionsarbeit konzentriert, vielleicht vergisst er das dann ja nicht mehr.

Es bleibt nur die Frage, ob die Stadt Gehrden noch irgendwo geeignete Baugrundstücke hat, die sie mit der Auflage des des sozialen Wohnungsbaus zu verkaufen kann, oder wie weit es möglich ist, sozialen Wohnungsbau in den Bebauungsplänen festzuschreiben. [Nachtrag: Wie die Calenberger Zeitung berichtet, hat die Stadt noch Grundstück dafür bereitgestellt.]

Ansonsten gäbe es mindestens noch ein weiteres Beispiel für eine kritikwürdige Politik der SPD/CDU/FDP-Ratsmehrheit: Natürlich ist der Kunstrasenplatz für den SV Gehrden großartig. Aber wenn eine Ratsmehrheit bereit ist, ca. 700.000 € für einen Kunstrasenplatz auszugeben, kann sie dann noch glaubwürdig in anderen Kontexten behaupten, dass die Notwendigkeit besteht, zu sparen? Die Gruppe Grüne/Linke hat in der Haushaltsdebatte ja kaum zusätzliche Ausgaben vorgeschlagen – mit Ausnahmen wie der Verlängerung der Öffnungszeiten der Stadtbibliothek. Wenn die Stadt Gehrden das Geld für einen Kunstrasenplatz hat, wieso hat sie dann nicht das Geld für etwas längere Öffnungszeiten der Stadtbibliothek?

Haushaltsdebatten über Einsparungen (und Konsolidierungskonzepte bei dem Haushaltsdefizit) sind ansonsten in Anbetracht der derzeitigen politischen Gesamtsituation nur begrenzt sinnvoll. Aufgrund der chronischen Unterfinanzierung der Kommunen kann ein ausgeglichener Haushalt kein sinnvoller Orientierungspunkt für die kommunalen Ausgaben sein. Eine Kommune kann also nicht sagen: ‚Wir haben dieses Geld für Soziales, Sport, Bildung und Kultur zur Verfügung, wie verteilen wir das jetzt genau?‘, sondern muss sich in fast allen Fällen entscheiden, welches Haushaltsdefizit sie in Kauf nimmt, um Soziales, Sport, Bildung und Kultur zu unterstützen. Dies ist auch einer der Hauptgründe, warum CDU und SPD bei der kommenden Bundestagswahl nicht wählbar sind – denn diese Parteien sind bundespolitisch für die schlechte Finanzierung der Kommunen verantwortlich, die ihre KommunalpolitikerInnen dann irgendwie managen müssen.  Die Grünen sind eigentlich auch nicht wählbar, denn das Problem bestand schon zu Zeiten von Rot-Grün und Schröder, ohne dass etwas wesentlich getan wurde.

Der Bundestagswahlkampf beginnt jedoch erst ab Ende Juni. Mit diesem Blogbeitrag wollte ich erst mal die Haushaltsdebatte und einen Teil der Debatte über sozialen Wohnungsbau abschließen.

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